© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Was vom Kriege übrigblieb
Politik trifft auf Geschichte: Der Erste Weltkrieg ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen kaum mehr verankert / Dabei sind seine Folgen noch immer in aktuellen Konflikten spürbar / Eine historische Spurensuche auf dem Balkan und im Nahen Osten
Nikolaus Heinrich

Er mag hundert Jahre her sein – der Erste Weltkrieg hat gleichwohl Spuren im Südosten Europas hinterlassen, die zum Teil bis heute wirkungsmächtig sind. Sie prägen nicht nur den Balkan, sondern auch die nähere Umgebung.

Bis 1914 stand Südosteuropa weitgehend unter der Kontrolle auswärtiger Großmächte: direkt im Falle Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches, das sich freilich nur noch auf geringe Reste nahe seiner Hauptstadt Konstantinopel stützen konnte; indirekt durch die russische Unterstützung für eine Reihe vornehmlich südslawischer Befreiungsbewegungen gegen die Türken. Serbien, Montenegro und Bulgarien besaßen ebenso wie Griechenland, Rumänien und Albanien zwar die Kraft, souveräne Staaten zu werden – für eine eigenständige regionale Großmachtpolitik dagegen reichten die lokalen Ressourcen nicht aus.

Allein die Grenzverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg zeigen, daß sich das nach 1918 änderte. Rumänien erzielte gewaltige Gebietszuwächse auf Kosten Ungarns, die Serben schufen mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (später Jugoslawien) einen neuen Vielvölkerstaat unter ihrer Führung, Griechenland konnte wenigstens zeitweise darangehen, sein Territorium in Richtung Osten auf Kosten der Türkei zu erweitern. Während das bürgerkriegsgeschwächte und nunmehr kommunistische Rußland bis auf weiteres als Schutzmacht der slawischen Balkanstaaten ausschied, wuchsen Frankreich und Großbritannien in die Rolle von Garanten der neuen Staatenwelt des Balkans hinein, während Italien am Ostufer der Adria Besitz erwarb.

Nun sind es nicht allein die Grenzverschiebungen an sich, die uns bis heute beschäftigen. Prägend wurde vor allem der aggressive Nationalismus, mit dem die Sieger ihre neu hinzugekommenen Untertanen empfingen. So waren weder Rumänien noch Serbien in der Lage, Hunderttausenden von Ungarn eine akzeptierte Heimat zu bieten (in der Wojwodina/Batschka und in Siebenbürgen). Versuche Budapests, eine besondere Beziehung zu den Ungarn in Serbien und Rumanien aufzubauen, sorgen noch im 21. Jahrhundert für Wirbel. Vor allem aber zerstörten nach 1918 Völkermord und Vertreibung – heute gemeinhin als „ethnische Säuberungen“ bezeichnet – jahrhundertealte ethnische Strukturen. Begonnen hatte das im Krieg zwischen Griechenland und der Türkei und dem Frieden von Lausanne (1923), der einen Bevölkerungsaustausch zwischen beiden Staaten vorsah und praktisch zum Erlöschen der türkischen Tradition in Griechenland sowie der griechischen in Kleinasien und in Konstantinopel/Istanbul führte.

Das Kernproblem Südosteuropas jedoch wurde Jugoslawien. Die von Illyrismus und Panslawismus getragene Vorstellung, die südslawischen Völker der Serben, Kroaten und Slowenen könnten zu einem Volk zusammenwachsen, erwies sich bereits Anfang der zwanziger Jahre als Illusion. Jugoslawien war und blieb trotz aller Ausgleichsbemühungen Belgrads nichts anderes als ein Großserbien, das Kroaten und Slowenen allenfalls zeitweise und vor allem nur durch Drohung mit und Anwendung von Gewalt im Staatsverband halten konnte. Waren die Serben schwach, wie 1941 und 1990, zerbrach das jugoslawische Staatswesen umgehend in seine Bestandteile.

Das gemeinsame Produkt serbischen Großmachtstrebens und alliierter Einhegungspolitik gegen Deutschland blieb eine Quelle von Unsicherheit und schrecklichen Kriegen mit Hunderttausenden Verfolgten und Getöteten. Die Serben alleine freilich waren angesichts geringer Kopfzahl und unzureichender Ressourcen ohnehin nicht in der Lage gewesen, ihren Vielvölkerstaat ohne Hilfe von außen zu behaupten. Sie erfreuten sich bis in unsere Tage der Unterstützung Frankreichs und Großbritanniens bei dem Versuch, die Ergebnisse des großen alliierten Sieges von 1918 in die Zukunft zu retten. Nicht umsonst agierten EG beziehungsweise EU und Uno in den Befreiungskriegen der neunziger Jahre so zögerlich, wenn es darum ging, serbischen Gewaltexzessen entgegenzutreten.

Noch 1999 (vor dem Kosovokrieg) und 2002 (bei der Jagd nach dem bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić) sollen französische Offiziere wichtige Informationen an Serbien weitergegeben haben. Und im traditionell deutschfreundlichen Kroatien mutmaßen noch heute viele, der endlos lange Beitrittsprozeß des Landes zur EU sei nicht zuletzt durch französische und britische Sticheleien so quälend gewesen, während Rumänien und Bulgarien wenige Jahre zuvor einen Verbündetenbonus erhalten hätten.

Schließlich wurde der Zusammenbruch des Habsburgerreiches zum Fanal für kleinere, gleichwohl traditionsreiche Minderheiten. Erst der Zweite Weltkrieg schuf die Möglichkeit, nach 1945 Deutsche und Italiener aus Jugoslawien zu vertreiben. Was heute von ihnen geblieben ist, sind allenfalls kulturelle Einflüsse und mächtige steinerne Architekturdenkmäler in Kroatien, Slowenien, Serbien und Rumänien. Das gemeinsame Leben von Jahrhunderten dagegen ist dahin. In dieser Hinsicht hat der Erste Weltkrieg tatsächlich eine Lösung von Dauer gebracht.

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