© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/14 / 18. Juli 2014

„Innerlich bewegt für die deutsche Einheit“
1954 sorgte der Verfassungsschutzpräsident Otto John mit seinem Überlaufen nach Ost-Berlin für einen Politskandal / Die Gründe sind bis heute undurchsichtig
Wolfgang Kaufmann

Am frühen Abend des 20. Juli 1954 überquerte der Wagen des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John (1909–1997), die Grenze nach Ost-Berlin. Zwei Tage später verkündete John im DDR-Rundfunk, er habe den Anlaß der öffentlichen Gedenkfeier der Bundesregierung für das Attentat des 20. Juli in Berlin genutzt, um „Verbindung mit den Deutschen im Osten aufzunehmen“ sowie „zum Einsatz für die Wiedervereinigung aufzurufen“. Und am 11. August erklärte der Überläufer dann auch noch voller Selbstzufriedenheit vor der internationalen Presse: „Ich habe mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, in die DDR zu gehen und hierzubleiben, weil ich hier die besten Möglichkeiten sehe, für die Wiedervereinigung Deutschlands und gegen die Bedrohung durch einen neuen Krieg tätig zu sein.“ Trotzdem freilich ist es heute immer noch Usus, die spätere Schutzbehauptung Johns zu kolportieren, er sei unter Drogen gesetzt und über die Sektorengrenze verschleppt worden. Dies meinen unter anderem der Jurist Klaus Schaefer und der Zeitgeschichtler Erik Gieseking, welche in John ein „Opfer des Kalten Krieges“ sehen. Ebenso munkelte der frühere Chef der DDR-Auslandsspionage, Markus Wolf, von Machenschaften des KGB: die beiden Mitfahrer Johns, Wolfgang Wohlgemuth und Max Wonsig, seien wohl Agenten des sowjetischen Geheimdienstes gewesen.

Doch ist die Verwendung von Betäubungsmitteln extrem unwahrscheinlich, denn Beamte der West-Berliner Polizei, welche den Wagen beim Durchfahren des Brandenburger Tores kontrolliert hatten, gaben später zu Protokoll, alle drei Insassen seien wach und ganz normal ansprechbar gewesen. Darum gehen andere Kenner der Materie von einer geplanten Aktion des obersten Verfassungsschützers aus. So schrieb der Berliner Politikwissenschaftler Hartmut Jäckel nach Auswertung der umfangreichen Stasi-Unterlagen über den Fall: Otto John habe sich „innerlich bewegt von einem naiv-patriotischen Impetus, der deutschen Einheit auf eigene Faust voranzuhelfen“, ganz und gar „freiwillig zu Gesprächen nach Ost-Berlin begeben“, wo er dann glaubte, „einen groben Fehler durch einen noch gröberen korrigieren zu können“.

Damit meint Jäckel den Umstand, daß John sich zum willigen Werkzeug der Propaganda gegen die Bundesrepublik machen ließ. So geißelte er immer wieder öffentlich den angeblich wachsenden Einfluß früherer Nationalsozialisten in Westen Deutschlands. Ebenso betrieb er ohne jede Not Geheimnisverrat, indem er beispielsweise Interna über Absprachen im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft enthüllte. Und dafür belohnte ihn der SED-Staat dann auch reichlich: mit einem Haus am Zeuthener See, einem Dienst-Mercedes plus Fahrer, einem Monatssalär von 2.500 Mark und so weiter.

In seiner Position nur durch Nimbus als Widerständler

Aus diesem Grund entschied der Dritte Senat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe völlig richtig, als er John am 22. Dezember 1956 wegen Staatsgefährdung und Landesverrats zu vier Jahren Zuchthaus verurteilte, nachdem sich der „Entführte“ im Jahr zuvor ohne Probleme nach West-Berlin abgesetzt und den Behörden gestellt hatte.

Moralisch mitschuldig an dem Eklat um den „Bumerang“, wie John seit seinem wiederholten Frontwechsel in Geheimdienstkreisen genannt wurde, waren aber auch die, welche den Rechtsanwalt seinerzeit zum Verfassungsschutzchef kürten, also Bundespräsident Theodor Heuss sowie der britische Geheimdienst: John eignete sich aufgrund seiner allgemein bekannten psychischen Labilität absolut nicht für einen derart sensiblen Posten.

Aber er zählte eben zu den Widerstandskämpfern, weil er am 20. Juli 1944 ganz kurz auf seiten Stauffenbergs gestanden und sich über Madrid dann nach England abgesetzt hatte. Deshalb konnte John 1950 an die Spitze des Kölner Bundesamtes gelangen und deshalb wurde er von Heuss auch schon am 27. Juli 1958 amnestiert. Darüber hinaus billigte ihm Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 1. Mai 1986 noch einen monatlichen „Gnadenunterhaltsbeitrag“ von 4.236 Mark zu, nachdem mehrere Versuche Johns gescheitert waren, eine Wiederaufnahme seines Prozesses von 1956 zu erreichen.

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