© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/14 / 18. Juli 2014

Pankraz,
A. Ostermaier und der lyrische Fußball

Gibt es schon eine Ode von Albert Ostermaier auf den verdienten Sieg der deutschen Nationalelf bei der WM in Brasilien? Wenn nicht, dann ist sie mit Sicherheit in den nächsten Tagen, spätestens Wochen zu erwarten – und man darf sich darauf freuen. Ostermaier, der fleißige Münchner Lyriker und Stückeschreiber, ist ja längst zu einer Art deutschem Pindar geworden, welcher jenseits von aktuellem Jubelgeschrei wie kritischer Nörgelei den echten Karat sportlicher Siege in Sprache zu verwandeln versteht. Schön, daß es ihn gibt.

Wie tönte einst Pindar (um 520 bis 446 v. Chr.), Vater der abendländischen Lyrik und Künder frühester Sportbegeisterung, in seinem berühmten achten Chorlied auf einen Olympiasieger? „Der Mensch ist eines Schattens Traum. / Aber wenn uns gottgeschenkt / Der Flammenglanz des Sieges naht, / Dann fällt ein schimmerndes Licht auf uns alle, / Und freundlich und leicht wird das Leben ...“

Vergleichbare Töne jetzt also in Ostermaiers jüngstem Opus „Flügelwechsel. Fußball-Oden“ (Insel-Verlag, Berlin 2014, 112 Seiten, 13,95 Euro). Über eine der legendären Paraden des Torhüters Oliver Kahn lesen wir beispielsweise: „Wenn er beim eckball / wie eine blonde katze aus dem / tor stürmt auf einer welle / der begeisterung durch die / blauen lüfte fliegt [...] dann ist es für einen moment ach / könnte er doch verweilen als / wollte er die sonne aus ihrer/ laufbahn fausten, als wäre die / welt nur zwischen seinen zwei / handschuhen zu fassen! (…)“

Hier wie dort, bei Pindar wie bei Ostermaier, die Verwandlung des angeblich doch so simplen „bloßen Spiels“ in göttliche Urgewalt, wo eine einzige, freilich mit höchstem Einsatz vollzogene Geste des Sportlers die Sonne buchstäblich aus ihrer Laufbahn „faustet“, die ganze Welt „zwischen zwei handschuhe faßt“ und dadurch „ein Licht auf uns alle fällt“ und unser Leben „freundlich und leicht wird“. Solche Verse sind natürlich Metaphern, Symbole für die Sache selbst, aber sie sind so dicht geraten, daß sie ihr ungeheuer nahekommen und ihre Wahrheit wie Blitze erhellen.

Üblicherweise gelten große, globale Sportereignisse und die darin errungenen Siege heutzutage ja als „Kompensationsereignisse“; es werden in ihnen, sagen die Soziologen, „Aggressionen abgeführt“, die sich sonst – wenn man sie nicht in Spiele verwandelte – unheilvoll auf das soziale und politische Leben auswirken würden. Lyriker wie Pindar und Ostermaier erinnern uns daran, daß es um viel wichtigere Dinge geht. Der Sport, erfahren wir durch sie, ist (und war von Anfang an) ein hochmetaphysisches Geschäft, in dem es im wahrsten Sinne um Leben oder Tod, Sein oder Nichtsein ging.

Bei den alten Mayas in Mexiko etwa stand im Mittelpunkt des Gottesdienstes ein streng geregeltes Ballspiel, bei dem zwei Mannschaften gegeneinander antraten und „Tore“ zu machen versuchten. Am Ende wurde eine der Mannschaften kollektiv den Göttern geopfert, doch es war nicht die unterlegene, sondern die siegreiche Mannschaft, die die meisten Tore erzielt hatte! Und ihre Mitglieder waren voll mit ihrem Schicksal einverstanden, kämpften verbissen und mit allen Tricks darum, geschlachtet zu werden.

Die Erfinder des Sports im Abendland, die alten Griechen, humanisierten glücklicherweise die urzeitlichen Bräuche. Geopfert wurde niemand mehr, und den Siegern wurden höchste Ehren und Privilegien zuteil, wurden sie doch gebraucht als Vorbilder, Anstifter und Motoren des agon, jener allgegenwärtigen Kraft, die das Leben der Polis und jedes einzelnen in Schwung hielt und ihnen erst Sinn, Freude und Hoffnung verlieh.

Unter agon verstanden die Griechen jegliches, körperliches wie geistiges, Kräftemessen, und dessen Zweck war stets das telos, der Sieg im Wettkampf. Faktisch alles übten sie als agon aus. Es wurde bei ihnen nicht einfach geschimpft, sondern wenn sich zwei beschimpften, dann entwickelte sich das sofort zum Schimpf-Wettbewerb; Zuhörer sammelten sich, die die Schimpfenden in sportlicher Weise nach Sieger und Besiegtem einstuften.

Selbst wenn irgendwo gesoffen wurde, entwickelte sich die Sauferei mit Sicherheit zum Sauf-Wettbewerb. Alexander der Große feierte seinen Sieg über den Verräter Kalanos, indem er einen Trinkwettbewerb mit hochattraktiven Preisen für den Sieger ausschrieb; es wurde so gesoffen, daß fünfunddreißig Teilnehmer auf der Stelle tot umfielen und sechs weitere, darunter der Sieger und Preisträger, nach dem Ende des agon ebenfalls starben.

Nicht zuletzt die Sphäre der Politik, der Polis also, der Volksversammlung, war ein einziger Wettbewerb. Es ist gar nicht zu übersehen: Der Übergang der Griechen von der Tyrannis zur Demokratie verdankte sich eindeutig ihrer Vorliebe für den sportlichen Wettbewerb, für das ewige Kräftemessen und Sieger-und-Besiegter-Spielen auch in Friedenszeiten. In der Volksversammlung wurde endlos palavert, weit über das für Entscheidungsfindungen notwendige Maß hinaus, so daß die Redezeiten streng limitiert werden mußten und durch extra bestellte Schiedsrichter beaufsichtigt wurden.

Man sieht: Am Anfang Europas stand nicht das Christentum oder die Demokratie oder sonst irgendwas, sondern der Sport, ein agonales, streng geregeltes Kräftemessen mit einem Sieger am Ende, der von den Seinen gewaltig gefeiert und mit Lobpreis und Geschenken überschüttet wird. Er verdient die Feiern, den Lobpreis und die Geschenke durchaus, denn er allein schafft es, die Sonne wenigstens einen Augenblick lang in die Faust zu nehmen und so des Schattens Traum zu verscheuchen und uns im Flammenglanz des Sieges zu wärmen.

Für die letztlich Unterlegenen kommen freilich etwas trübe Zeiten. Aber sie halten dafür die Hoffnung hoch, die ihnen niemand rauben kann: Bis zum nächsten Mal! Das ist eben das Schöne am Sport, das ihn so wohltuend von Krieg, Vernichtung und den finsteren Endspielen der Maya unterscheidet. Es gibt immer die Möglichkeit zur Revanche, der Horizont bleibt offen.

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