© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/14 / 18. Juli 2014

Teuer erkaufter Sieg
EU: Mit viel Gekungel und einem Sack voll Versprechen konnte sich Jean-Claude Juncker den Stuhl des Kommissionspräsidenten sichern
Mario Jacob

Die Erwartungen waren groß beim Treffen zwischen der eurokritischen Fraktion Europe of Freedom and Direct Democracy (EFDD) und dem designierten neuen Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker. Ein gegenseitiges Abtasten und Standpunkte vertreten sollte es werden. Vielleicht kommen sich beide Seiten näher – so die Hoffnung. Doch es war eine einzige Enttäuschung.

Entsprechend mißmutig klang dann auch das Urteil von Nigel Farage, Chef der britischen United Kingdom Independence Party (Ukip). Juncker gebe sich als völlig realitätsfern, die Migration innerhalb der EU als ein geringfügiges Problem zu betrachten. Auch sei er darüber schockiert, daß der Luxemburger während des Gesprächs die Existenz eines Europäischen Volkes verneint habe.

Diese Standpunkte legte Juncker bei dem Treffen vor der Parlamentsentscheidung dar. Ein Abweichen hiervon schließt er kategorisch aus. Mit solchen Aussagen suchte der ehemalige luxemburgische Premierminister nun auch die kritischen Wählerstimmen im EU-Parlament zu umschmeicheln. Von allen geliebt zu werden ist Junckers Strategie.

Dieses Kalkül ging zum großen Teil auf. Jean-Claude Juncker wurde mit 422 Ja- und 250 Gegenstimmen bei 47 Enthaltungen und zehn ungültigen Stimmen zum Kommissionspräsidenten gewählt. Notwendig war eine absolute Mehrheit von 376 von insgesamt 751 Stimmen.

Ein teuer erkaufter Sieg. Stellten sich doch die sozialdemokratischen und sozialistischen Staats- und Regierungschefs erst kurz vor der Wahl hinter die Kandidatur des liberal-konservativen Juncker als Kommissionschef. Gleichzeitig verlangten sie mehr Zeit zum Schuldenabbau für reformwillige Staaten. Das ist ein Vorschlag, den am Ende alle sozialdemokratischen EU-Staats- und Regierungschefs mittragen.

Reformen gegen Zeit – so lautet die Formel. Sie ist die Gegenleistung, die die sozialdemokratischen Regierungen in Europa dafür verlangen, daß sie die Kandidatur als EU-Kommissionschef unterstützten. Ergo versprach er den Sozialisten den Posten als EU-Wirtschaftskommissar und schloß Flexibilität hinsichtlich der Haushaltsregeln nicht aus. Der 59jährige winkt mit einem 300 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm gegen Arbeitslosigkeit.

Freizügigkeit als „Chance“, nicht als Bedrohung sehen

Auch bei den Grünen warb Juncker um Stimmen. Diese signalisierten ebenfalls Unterstützung für die Wahl zum Kommissionspräsidenten. So sagte der Abgeordnete Sven Giegold, er halte Juncker für einen aufrechten Europäer, vor dem er viel Respekt habe. Die Entscheidung beim EU-Gipfel für Juncker sei ein großer Erfolg für die europäische Demokratie. Für die Liberalen fand Juncker ebenfalls wärmende Worte. Er versprach Europa zu entbürokratisieren und sicherte eine „breit aufgestellte Reformagenda“ zu.

Der langjährige einflußreiche Chef der Euro-Gruppe beschwört in diesem Kontext – bei allem berechtigten Stolz auf das bisher Erreichte – gar einen „Neuanfang“. Vor allem gehe es darum, die EU-müden Bürger wieder für das Projekt zu begeistern.

Auch will er die Herausforderungen der Einwanderungsproblematik nicht scheuen. Auf dem Treffen der EFDD-Gruppe bezeichnete Juncker die Migration innerhalb der Europäischen Union dagegen als „geringfügiges Problem“. Denn so Juncker: „Die Freizügigkeit ist eine Chance, keine Bedrohung.“

Junckers breitgefächerte Aussagen und Zielsetzungen fügen sich nahtlos an das Gescharre zwischen ihm und SPD-Spitzenkandidat Schulz im Vorfeld der Wahl zum EU-Kommissionspräsidenten an. Seit der Europawahl tobte ein Machtkampf zwischen den europäischen Institutionen. Das Europaparlament präsentiert sich als Hort der Demokratie, der den Wählerwillen respektiert. Die Bösen sind die Mitgliedsstaaten. Diese wollten sich im nachhinein nicht an die Abmachungen zu den Spitzenkandidaten halten und hätten ein eigenes Personalpaket ausgekungelt, so der Vorwurf.

Ganz aus der Luft gegriffen sind solche Aussagen nicht. Das hat die Diskussion der vergangenen Wochen gezeigt. Schließlich versuchte der britische Premier David Cameron mit allen Mitteln, Juncker als Kommissionspräsidenten zu verhindern. Parallel dazu wehrte sich Frankreichs Präsident François Hollande gegen die Personalie. Doch ging es dabei weniger um Europa als darum, innenpolitisch zu punkten. Das starke Abschneiden der EU-Kritiker in den jeweiligen Ländern setzt Cameron und Hollande unter Druck.

Diese ließen dann auch ihre Muskeln spielen und verweigerten ihre Zustimmung. Nigel Farage sprach angesichts der geheimen Wahl über nur einen einzigen Kandidaten von einem Procedere wie in besten „Sowjetzeiten“. Dies sei eine „riesige Beleidigung“ der Wähler in der Europäischen Union.

Doch Farage beließ es nicht bei Kritik, positiv stellte er heraus, daß Juncker besseren Sinn für Humor habe als so mancher Brüsseler Politiker. Entsprechend will der Brite in den nächsten Jahren den Kampf gegen die Zentralisierung und für mehr Demokratie in der EU „genießen“.

Foto: EU-Kritiker Nigel Farage (l.) und Jean-Claude Juncker: Politisch getrennt, aber im Humor vereint

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