© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Neudeutung der Naturgeschichte
„Soziales Wesen“ oder „egoistisches Gen“: Was ist die Grundlage für das Erfolgsmodell Mensch?
Karlheinz Weissmann

Die Biologie gilt gemeinhin als „rechte“ Wissenschaft; oder genauer gesagt: Die weltanschaulichen Folgerungen aus biologischer Forschung führen regelmäßig zur Bestätigung „rechter“ Positionen, das heißt eines skeptischen Menschenbildes, einer agonalen Wirklichkeitsvorstellung, einer Idee naturhafter Bestimmtheit.

Vom Darwinismus bis zur Zwillingsforschung, von der Genetik bis zur Ethologie, immer wieder durfte sich die „Rechte“ unterstützt sehen und reagierte die „Linke“ gereizt oder polemisch. Allerdings wird man feststellen müssen, daß sich auch dieser große Konflikt, der über ein Jahrhundert andauerte und die großen ideologischen Schlachten begleitete, erschöpft hat. Nicht, daß die Biologie nichts mehr zu sagen hätte oder ihre Vertreter das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Aber das, was sie vortragen, wird gemeinhin mit Achselzucken zur Kenntnis genommen oder allseits mit Zustimmung quittiert. Dafür gibt es sicher verschiedene Gründe, aber einer liegt darin, daß die Biologie das, was heute Mainstream ist, stützt.

Wie sollte auch Anstoß erregen, wer zu folgender Forderung kommt: „Wir müssen lernen, ein Übermaß an Selbstbezogenheit, Kleinlichkeit und Konkurrenz zu überwinden. Wenn es um die Gesellschaft geht, müssen wir über die engen Grenzen hinausdenken (…) Wir müssen die engstirnige Vorstellung überwinden, daß Strafen und Drohungen Kooperation stärken können. Meiner Ansicht nach kann eine kreative Zusammenarbeit nur aus gegenseitiger Unterstützung erwachsen, die durch Teilhabe, Freundschaft und Belohnungen motiviert ist.“ Die Sätze stammen aus dem neuesten Buch des österreichischen Biologen Martin A. Nowak „Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution“. Nowak arbeitet vor allem mit Hilfe mathematischer Modelle, orientiert an der Spieltheorie, und bestätigt durch die Ergebnisse seiner Forschung eine neue Deutung der Naturgeschichte.

Der zufolge hat sich die menschliche Spezies nicht wegen einer besonders rücksichtslosen Durchsetzung einzelner als erfolgreich erwiesen, sondern aufgrund des „Sozialen“, das heißt der Fähigkeit, miteinander zusammenzuarbeiten. Die setzt Empathie voraus, das heißt das Vermögen, sich in andere einzufühlen und deren Interessen in eigene Planungen zu integrieren, aber vor allem eine tief verankerte Bereitschaft zur Unterstützung des anderen, auch wenn die keinen (unmittelbaren) Nutzen hat. Nowak glaubt sogar, „daß Kooperation älter als das Leben ist“, mithin schon auf molekularer Ebene angelegt war, und auf allen Stufen der Evolution am ehesten den Erfolg einer Spezies verbürgte, weshalb staatenbildende Insekten einerseits, der Mensch andererseits als Sieger aus dem Wettlauf der Arten hervorgegangen sind.

Nowaks Feststellung, daß „Gene (...) wohl gar nicht so egoistisch“ sind, wirkt allerdings relativ zurückhaltend im Vergleich zur Absage an das Paradigma „egoistisches Gen“ durch dessen Erfinder, den Amerikaner Edward O. Wilson. Tatsächlich widerruft Wilson in seiner jüngsten Veröffentlichung „Die soziale Eroberung der Erde“ die von ihm selbst in die Welt gesetzte Behauptung, daß Organismen nur „Überlebensmaschinen“ seien, darauf programmiert, den eigenen genetischen Code in möglichst hoher Zahl zu reproduzieren. Wilsons These revolutionierte in den 1970er Jahren das biologische Denken, aber anders als sein Kampfgefährte Richard Dawkins hat er seine Vorstellungen mittlerweile gründlich revidiert und kehrt zu klassischen Positionen zurück.

Eusozialität bedeutet auch, das Eigene zu verteidigen

Dabei spielt für ihn wie für Nowak die Vorstellung von „Eusozialität“, das heißt der dauerhaften und vollständigen Einbindung des einzelnen in Gruppen seiner Art, eine ausschlaggebende Rolle, und daneben die These, daß es „tatsächlich kooperierende Gruppen“ bloß beim Menschen gebe, während ein Ameisenstaat lediglich die „Ausdehnung“ des mütterlichen Genoms kenne. Wilson klärt außerdem, daß Eusozialität keineswegs als Idylle beschrieben werden darf, denn es handelt sich um „verschiedene, in einer komplizierten Mischung sorgfältig austarierte Faktoren, nämlich Altruismus, Kooperation, Konkurrenz, Dominanz, Reziprozität, Abtrünnigkeit und Betrug“.

Sehr verknappt ausgedrückt heißt das: Innerhalb einer Gruppe darf sich das Individuum ein erhebliches Maß an Konkurrenz, Dominanz, Abtrünnigkeit und Betrug erlauben, aber nach außen hin müssen Altruismus und Kooperation unbedingt im Vordergrund stehen. Überdeutlich wird diese Notwendigkeit anhand der Tatsache, daß alle eusozialen Lebewesen „Nester“ bauen, die sie gegen jeden Feind verteidigen. Kooperation und Nestbau gehören für Wilson neben dem Leben auf dem festen Land, der Zunahme von Körpergröße und Gehirn, der Ausbildung der Hand, dem Fleischverzehr, dem Feuergebrauch, der Arbeitsteilung und der Organisationsfähigkeit zu den wichtigsten Voraussetzungen, damit das „beinah Unmögliche“ gelang: der Siegeszug unserer Spezies.

Bis zu diesem Punkt entwickelt Wilson eine ausgesprochen einleuchtende Argumentation, und die meisten Leser verzeihen ihm sicher auch, daß er dann auf sein eigentliches Spezialgebiet – die Insekten – ausführlich zu sprechen kommt. Problematisch ist aber das, was im letzten Teil des Buches über die „Gen-Kultur-Koevolution“ folgt. Gemeint ist damit nicht das Konzept, wie Wilson Natur und Kultur verknüpft, auf diesem Feld wird man von einem Biologen kaum anderes erwarten können, sondern das Ausgreifen auf alle möglichen Felder der Geschichte und der Entwurf eines Zukunftsbildes, das in keinem Zusammenhang, mehr noch – das im strikten Widerspruch zu dem steht, was vorher über das Wesen des Menschen gesagt wurde.

Denn wie soll dieses territorial gebundene, ohne Gemeinschaft desorientierte „Stammestier“, zu dessen Existenz das „Wir“ wie der Krieg notwendig gehören, und bei dem nach Wilsons Meinung selbst „die komplexesten Formen des (…) Verhaltens letztlich biologisch begründet sind“, irgendwann in einen auf „Homogenisierung der Menschheit“ gründenden Weltstaat überführt werden, der alle „oppressiven Formen des Tribalismus“ hinter sich gelassen hat?

Man kann an dieser Stelle das eigentliche Dilemma der modernen Biologie, soweit sie den Menschen zum Gegenstand macht, mehr als deutlich erkennen. Nowak hat sein Buch mit dem Satz begonnen: „Die Biologie hat eine dunkle Seite.“ Aber er nimmt ihn nicht ernst. Dasselbe kann man von Wilson sagen, der sich sowenig wie sein Kollege den notwendigen Schlußfolgerungen des eigenen Denkens zu stellen wagt.

Martin A. Nowak, Roger Highfield: Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution. C. H. Beck, München 2013, gebunden, 397 Seiten, 24,95 Euro

Edward O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen. C. H. Beck, München 2013, gebunden, 347 Seiten, Abbildungen, 22,95 Euro

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