© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Andreaskreuze in Brasilien
Fußball-WM: Nicht nur Party und Kommerz, sondern auch Politik und Patriotismus
Martin Schmidt

Rückblick auf die Vorrunde der Weltmeisterschaft in Brasilien: England und Uruguay treffen aufeinander. Den Ton auf den Zuschauerrängen geben klar die „Urus“ an. Die Kamera macht einen Schwenk über das hellblau-weiße Farbenmeer der Südamerikaner und hält plötzlich inne. Unübersehbar findet sich in ihrer Mitte ein dunkelblau-weißer Block: Es sind Schotten, die sich durch ihre Andreaskreuzfahnen zu erkennen geben. Sie haben keine Kosten und Mühen gescheut, obwohl Schottland bei diesem Turnier gar nicht dabei ist, und sind hier, um mit ihrer Stimmkraft gegen England ins (Fußball-)Feld zu ziehen.

Zweifellos wissen sie, daß es für die am 18. September bevorstehende Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands nicht ganz unwichtig ist, wie sich die ungeliebten Engländer bei diesem Mega-Sportereignis schlagen.

Nun, die Schotten können zufrieden sein: Uruguay gewann mit 2:1, und England scheiterte bereits in der Vorrunde. Gleiches widerfuhr Spanien, was wiederum bei der katalanischen Nationalbewegung für Freude gesorgt haben dürfte, zumal sich diese seit Jahren mit erheblicher Öffentlichkeitswirkung nicht nur für die eigene Staatlichkeit, sondern auch für eine eigene Fußballnationalmannschaft einsetzt. Andererseits hätte ein Vordringen der belgischen Mannschaft unter die letzten Vier oder gar ins Finale wohl eine kurzfristige Stabilisierung des brüchigen Staates der Flamen und Wallonen bedeutet, dem nach den jüngsten Wahlen wieder eine lange Suche nach einer neuen Regierung bevorsteht.

Mit Inbrunst und Stolz die Hymnen singen

Das Turnier in Brasilien läßt auch mit Blick auf die kollektive Psyche der Deutschen und ihre unterschwellige Sehnsucht nach einem ganz normalen, unbelasteten, gemeinschaftsfördernden Patriotismus tief blicken. Eine ganze Generation wuchs seit dem Titelgewinn von 1990 mit einer erfreulich unbefangenen, positiven Einstellung gegenüber den Nationalfarben und der eigenen Hymne auf. Diese jungen Deutschen sehen jetzt zu, wie gerade die Südamerikaner voller Inbrunst und Stolz ihre Hymnen singen und werten dieses – zumindest unterbewußt – als etwas Selbstverständliches und Schönes.

Fußballweltmeisterschaften sind eben viel mehr als Kommerz und eine wochenlange Party, sie sind auch große Politik und gelebter Patriotismus. Der Politologe Tamás Fricz kommentierte das am 30. Juni in der konservativen ungarischen Tageszeitung Magyar Nemzet: „Was ist denn nun mit dem Mantra, das von den Linken, Kosmopoliten, Weltbürgern, internationalen Organisationen, EU-Bürokraten täglich beschworen wird: ‘Die Zeit der Nationalstaaten ist abgelaufen.’ (…) Die Leidenschaft der Neymars und die elementare Kraft der Hymnen stehen dem doch klar entgegen. Das Nationalbewußtsein wird auch in den nächsten 200 bis 300 Jahren die treibende Kraft der Gesellschaften sein ....“

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