© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/14 / 04. Juli 2014

Ausgeprägte Lust auf Wildnis
Erste bundesweite Mentalitätsstudie gibt Auskunft über das deutsche Naturbewußtsein
Christoph Keller

Gentechnik trifft bei der Mehrheit der Deutschen auf entschiedene Ablehnung. Das ist im Rückblick auf eine Unzahl kritischer bis negativer Presseberichte dazu keines der überraschenden Resultate der „Naturbewußtseinsstudie“, die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks vor kurzem präsentierte.

Verblüffend ist jedoch, wie sich diese Abwehrhaltung aus den übrigen Befunden der Studie nahezu von selbst erklärt. Denn zwei Drittel der Deutschen mögen die Natur um so lieber, je wilder sie ist. Es bestehe ein „ausgeprägter Wunsch“, mit Wildnis in Berührung zu kommen. Dafür sind 68 Prozent der Befragten sogar bereit, auf einen ungehinderten Zugang zu Wäldern und Naturschutzgebieten zu verzichten. Die Wildnis solle erhalten bleiben. Und sie sollte sich ausdehnen können. Auf der Wunschliste von 60 bis 80 Prozent der Befragten stehen „mehr Wildnis in den Wäldern“, rekultivierte Moorlandschaften, der Rückbau gezähmter Flüsse und Auen, rücksichtsvoller, den Gewässern mehr Raum gebender Hochwasserschutz sowie erweiterte Naturzonen in den Hochgebirgs- und Felsregionen. Exakt 80 Prozent finden, daß abgestorbene Bäume und Totholz in den Wald gehören. Nur eine Minderheit ist der Meinung, Wälder müßten „ordentlich“ ausgeräumt werden. Eingeschworen auf Artenvielfalt, Klimaschutz, Nachhaltigkeit und eben „Wildnis“ reagieren die meisten Deutschen deshalb phobisch auf die gentechnisch erzeugte, „künstliche“ Natur.

Verregelte Homogenität hier, Natursehnsucht dort

Wie auch immer die „Wildheit“ der von Menschen geschaffenen Naturreservate einzustufen sei, scheint die erste bundesweite Mentalitätsstudie dieser Art kulturkritische Analysen Joachim Ritters (1903–1974), des „Philosophen der Bürgerlichkeit“ (Jens Hacke), zu bestätigen. Demnach kompensiere der moderne Mensch die Expansion technisch und ökonomisch homogener Strukturen mit der Aufwertung seiner natürlichen und historisch tradierten Lebenswelten. Auf deren zivilisatorische Zerstörung antworten Natur- und Denkmalschutz, Musealisierung und Historisierung mit erhöhten Anstrengungen.

Einen wissenschaftlichen Abschlußbericht mit vertiefenden Analysen zu dieser informativen Studie, die auf der Netzseite des Bundesamtes für Naturschutz zur Verfügung steht, stellt das Bundesumweltministerium für Herbst 2014 in Aussicht.

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