© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/14 / 04. Juli 2014

Das Ergebnis war unerbittlich
Jörg Friedrich präsentiert den Ersten Weltkrieg im Stil der großen Geschichtserzählung
Erik Lehnert

Die Lage auf dem deutschen Büchermarkt droht zum Thema Erster Weltkrieg langsam unüberschaubar zu werden. Neben den Platzhirschen Christopher Clark und Herfried Münkler, die sich allein schon durch ihr frühes Erscheinen Aufmerksamkeit sichern konnten, ist es bislang kaum einem der folgenden Titel gelungen, sich durchzusetzen. Ob es mit der Unlust, zum wiederholten Male mehr als achthundert Seiten zu lesen, zu tun hat, ist nur eine Vermutung.

Mit diesem Problem hat auch Jörg Friedrichs Buch zum Ersten Weltkrieg zu kämpfen, das es auf mehr als tausend Seiten bringt. Allerdings steht der Name des Autors seit seinem Bestseller über den Bombenkrieg („Der Brand“, 2002), für eine empathische Art des Erzählens, die auch vor umstrittenen Vergleichen nicht zurückschreckt, um dem Leser eine Einordnung des Geschilderten zu ermöglichen. Darin liegt das Geheimnis von Friedrichs Erfolg, auch wenn manch ein Historiker darüber die Nase rümpfen mag.

Für Friedrich ist die Geschichtswissenschaft nur Mittel zum Zweck. Und der Zweck seines Unternehmens besteht darin, die Geschichte des Ersten Weltkriegs auf eine Weise zu erzählen, die den Leser an die Hand nimmt, sich nicht vor scharfen Urteilen scheut, Schlußfolgerungen zieht und Zusammenhänge aufdeckt. Er hat die epische Breite und Eindringlichkeit eines Golo Mann ebenso wie Urteilslust und Schnoddrigkeit eines Joachim Fernau. Das wichtigste Merkmal ist vielleicht, daß Friedrich sich nicht in Besserwisserei übt und aus der Tatsache, daß man im nachhinein immer schlauer ist, keine Weltanschauung macht: Alle Beteiligten haben gehandelt, weil sie bestimmten Zwängen unterworfen waren, unter denen sie ein Ziel erreichen wollten.

Bei Friedrich führt diese Einsicht nicht dazu, daß es kein Gut und Böse mehr gibt. Im Gegenteil: Daß die Niedertracht bei der Entente zu Hause war, ist vielleicht noch nirgends so deutlich ausgesprochen worden wie hier. Friedrich scheut sich nicht, den Weltkrieg „mißlungen“ zu nennen, auch deshalb, weil er „in einer schlechteren Welt endete als der, aus der er kam“. Die entscheidende Frage, die sich angesichts des Verlaufs des Ersten Weltkriegs stellt, ist daher, warum dieser nach Versailles führen mußte.

Die Antwort, die Friedrich darauf gibt, lautet: Er hatte seine eigene Logik, aus der es kein Entrinnen gab: „Die atemberaubende militärische Bravour, mit der das Reich bei halber Kraft sich im bisher russisch und österreichisch dominierten Raum durchsetzte, drückte die westlichen Mächte an die Wand. Die Wand war die Westfront, an die gefesselt sie vier Jahre lang am Kanal und vor Paris ihre blanke Existenz verteidigten, während Deutschland im Osten die Welt veränderte.“ Damit hatte bei der Entente offenbar niemand so richtig gerechnet und dementsprechend waren die Konsequenzen. An eine Balance war nicht mehr zu denken, Deutschlands „militärische Kapazität mußte niedergerungen und aufgelöst werden“. Hinzu kam die Tatsache, daß der Einsatz von Gütern und Leben im Laufe des Krieges auf ein Maß getrieben wurde, das eine Wiederherstellung des Status quo undenkbar machte.

Die Entente tat alles, den Krieg zu entfesseln

Das muß allerdings noch nicht notwendig nach Versailles führen. Dazu bedurfte es noch der Ausschaltung des Ausgleichs, den zuweilen die Selbsterhaltung gebietet. Die Deutschen waren für die Entente jedoch ein Gegner, der solches ausschloß. „Er vergewaltigt mein Weib und verstümmelt mein Kind. Ein Leben in Würde ist, solange er existiert, nicht vorstellbar, (...) der Feind ist nicht gut, wird nicht gut, ist nicht Feind aus einer militärischen Situation, sondern aus seinem Wesen. Er ist der Feind der Menschlichkeit, der Unmensch“, versucht Friedrich die Befindlichkeit auf Seiten der Entente-Staaten in Worte zu kleiden.

Ob das der Wirklichkeit entspricht, ist egal. Wichtig ist, daß es jeder glaubt. Von Beginn an tat die Entente alles, den Krieg zu entfesseln, selbst als friedliebend dazustehen und Deutschland ins Unrecht zu setzen. „Deutschland, das lieber Aggressor als Verlierer sein wollte, war am Schluß beides.“ Die angebliche „Vergewaltigung Belgiens“ war nur der Anfang in einem falschen Spiel. Niemanden interessierte es, daß die Entente die griechische Neutralität ignorierte: „Sie waren Rechtsbrecher, jedoch reinen Gewissens.“ Sie waren erklärtermaßen in den Krieg gezogen, um die Einhaltung internationaler Verträge zu erzwingen. Eine Begründung, die Friedrich als „Quatsch“ bezeichnet. Der entscheidende Unterschied war die Selbstwahrnehmung: Die Deutschen nannten Belgien selbst einen Rechtsbruch und fügten sich damit in eine Sonderrolle. Sie waren zu ehrlich und zu wenig pragmatisch.

Dabei hatten die Alliierten soviel Blut an den Händen, daß schon eine gewisse Chuzpe dazugehört, die Deutschen als Barbaren zu brandmarken. Das gilt besonders für Belgien und seine kolonialen Exzesse. Friedrich zerlegt zudem die „wissenschaftliche“ Auffassung, daß es in Belgien keinen Partisanenkrieg gegeben habe, genüßlich, indem er sowohl plausible deutsche Berichte und die völlig absurden Zeugenaussagen des sogenannten Bryce-Reports des britischen Kriegspropagandabüros zitiert. Friedrich scheut sich nicht vor Vergleichen und stellt die 1.101 belgischen Zivilopfer den 1.620 Opfern in Ostpreußen gegenüber und vergißt nicht zu erwähnen, mit welcher Brutalität und Konsequenz die Russen in Ostpreußen hausten, die Zehntausende verschleppten und jeden Dritten auf die Flucht zwangen.

Friedrich macht zudem deutlich, daß die Deutschen den Rüstungswettlauf (an dem sie sehr zurückhaltend teilnahmen) irgendwann verlieren mußten. Österreich, der einzige Bundesgenosse, wurde immer schwächer und war auch im Krieg keine Hilfe, Frankreich wollte Elsaß-Lothringen zurück und die Schwächung Deutschlands, Rußland ebenfalls. Die Unnatürlichkeit des russisch-französischen Bündnisses kommentiert Friedrich mit der Bemerkung, daß vier Fünfteln der politischen Klasse Frankreichs unter russischen Verhältnissen die Verbannung gedroht hätte.

Schließlich wurde auch bei der Hinzuziehung der Verbündeten im Laufe des Krieges nicht nach Recht gefragt. Daß Italien Österreich angriff, war sehr willkommen, die Schuldfrage nebensächlich, auch wenn es sich um eine Aggression handelte. Das Moralin übernahm mit dem Kriegseintritt der Amerikaner endgültig überhand. Sie opferten, unter anderem auf der „Lusitania“ 197 Amerikaner, hatten einen Kriegsgrund und verloren 116.000 Soldaten. Die Hungerblockade gegen Deutschland kostetet etwa 800.000 Menschenleben: „Aus der inneren Relation dieser Zahlen mag man Rückschlüsse ziehen auf die moralischen, politischen und materiellen Aspekte der amerikanische Kriegsteilnahme.“

Mit dieser Aufforderung mutet Friedrich dem heutigen Leser einiges zu. Er muß über den Schatten des eigenen Selbsthaßes springen und die Befreiungs-, Demokratisierungs- und Selbstbestimmungspropaganda als das begreifen, was es für die Alliierten war: ein Mittel zum Zweck der Ausschaltung Deutschlands aus dem Kreis der souveränen Staaten. Die Alliierten kämpften um die Weltherrschaft, Deutschland um seine Existenz, auch wenn es zeitweise anders aussah. Die Waffenstillstandsbedingungen entsprachen nicht dem Kriegsverlauf, sondern den Bedürfnissen der Sieger: Der Verlierer hat schuld und muß für die Kosten aufkommen; selbst wenn dadurch der Bolschewismus seinen Siegeszug antreten kann, wie Friedrich abschließend zeigt.

Es ist zu hoffen, daß Friedrich den Leser mit dieser Zumutung nicht überfordert. Wenn doch, so hat es nicht an ihm gelegen. Sein Buch ist eine großartige Geschichtserzählung und ein revisionistisches Meisterwerk.

Jörg Friedrich: 14/18. Der Weg nach Versailles. Propyläen Verlag, Berlin 2014, gebunden, 1.072 Seiten, 34.99 Euro

Foto: „Simplicissimus“-Karikatur zum Versailler Vertrag mit den alliierten Siegern Woodrow Wilson, Georges Clemenceau, David Lloyd George (v.l.n.r.) und dem Deutschen Reich als Delinquenten, Juni 1919: „Auch Sie haben ein Selbstbestimmungsrecht: Wünschen Sie, daß Ihnen die Taschen vor oder nach dem Tod ausgeleert werden?“

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