© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/14 / 04. Juli 2014

Ein Kartenhaus bricht zusammen
Ostfront im Juli 1944: Das vergessene „Super-Stalingrad“ der Heere Mittesgruppe Mitte
Oliver Busch

Nach der Landung britisch-amerikanischer Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944 galt die ganze Aufmerksamkeit des unermüdlichen Tagebuchschreibers Joseph Goebbels dieser lang erwarteten Eröffnung einer „zweiten Front“ im Weltkrieg gegen das Großdeutsche Reich, den bis dahin Stalins Rote Armee fast allein ausgefochten hatte.

Um die Ostfront glaubte sich der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda – ein beinahe rührend naiver militärischer Laie – in jenen Tagen keine Sorgen machen zu müssen. Stündlich erwartete er, das Sprachrohr der „Volksgemeinschaft“, daß Rommel in Nordfrankreich die Angelsachsen zurück ins Meer werfen werde. Doch kurz nach dem dritten Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, am 25. Juni 1944, notiert der Propagandist des „totalen Krieges“: „Die Lage im Osten hat sich wieder zu einer echten Krise ausgewachsen.“

Am 26. Juni, als „der Doktor“ weiter auf die Invasionsfront starrte, heißt es: „Wie aus heiterem Himmel trifft die Nachricht ein, daß den Bolschewisten ein Durchbruch großen Stils gelungen ist.“ Es bahne sich eine „sehr ernste Ostkrise“ an: „Wer hätte das erwartet!“ Dabei hätten „unsere Militärs“ sich doch so stark gemacht und versichert, an der Ostfront seit 1941 niemals über ein so „dickes Polster“ an Reserven verfügt zu haben „wie jetzt“.

Fortan registrierte Goebbels die Entwicklung im Osten eher unwillig. Unablässig blickte er wie das Kaninchen auf die Schlange nach Westen, auf den Endkampf der Hafenfestung Cherbourg, auf das selbst in der britischen Presse konzedierte „unvorstellbare Heldentum der deutschen Wehrmacht“ und die „gänzlich ungebrochene Moral“ des Landsers. Am 30. Juni aber notiert der nicht zu Illusionen neigende Minister verstört-ungläubig: „Die Sommeroffensive der Sowjets bereitet Angst und Schrecken.“

Bis zum 20. Juli, dem Tag des Stauffenberg-Attentats im ostpreußischen Führerhauptquartier, zieht die „Ostlage“ Goebbels dann täglich mehr und mehr in ihren Bann. Was sich dort irgendwo in Weißrußland aber genau abspielte, der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte, ein „Super-Stalingrad“, wurde ihm erst klar, als die Rote Armee mit „unvorstellbarer Angriffskraft“ am 10. Juli Minsk eroberte und damit, wie befürchtet, „in nicht allzu weiter Entfernung von der deutschen Reichsgrenze“ stand. Tatsächlich brauchten die Sowjets nur weitere 14 Tage, um Warschau zu bedrohen und in Memel die erste Evakuierung der Zivilbevölkerung auszulösen. Unter Militärhistorikern besteht kein Zweifel, daß der Zweite Weltkrieg im August 1944 hätte beendet werden können, wenn die russischen Armeen nicht an der Weichsel verharrt, sondern einfach zur Ostsee durchgestoßen wären.

Schwerste Niederlage der deutschen Militärgeschichte

Der Untergang der vier Armeen der Heeresgruppe Mitte, die schwerste Niederlage, die die deutsche Militärgeschichte zu verzeichnen hat, ging auf kapitale Führungsfehler des obersten Kriegsherrn in der Wolfsschanze und die erdrückende sowjetische Überlegenheit zurück. Am 22. Juni 1944 stürmten 1,25 Millionen Rotarmisten gegen eine Front, die auf dem Papier von 800.000, tatsächlich aber nur von 330.000 deutschen Soldaten gehalten wurde. Bei Flugzeugen, Artillerie und Panzern nimmt dieser, die zehn- bis zwanzigfache russische Überlegenheit ausweisende Kräftevergleich sogar noch groteskere Formen an.

Hinzu kam, daß Stalin dank angelsächsischer Waffenhilfe ein vollmotorisiertes Heer in die Schlacht schickte, während die Wehrmacht im fünften Kriegsjahr infolge von Material- und Brennstoffknappheit wieder auf Pferdegespanne zurückgriff und sich „entmotorisierte“. Diese „unterarmierten, untermotorisierten und unterversorgten Verbände“ bildeten im weißrussischen Bogen von Witebsk bis Bobruisk kaum mehr als eine Fassade der Ostfront, ein „Kartenhaus vor dem Einsturz“, wie es der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser charakterisiert.

Trotzdem wäre der Zusammenbruch niemals so schnell und vollständig erfolgt, wenn die deutsche Führung nicht derart total versagt hätte. Und zwar nicht die von Goebbels als „Bürogenerale“ beschimpften Armeeführer unter dem Kommando des wirklich unfähigen, am 28. Juni durch Walter Model abgelösten Generalfeldmarschalls Ernst Busch. Vielmehr war es der auf seine Defensivstrategie fixierte Adolf Hitler, der mit absurdesten Haltebefehlen, entstanden in einer „militärischen Traumwelt“ (Frieser), die Auflösung der Abwehrfront beschleunigte. Erst dem gegenüber seinem „Führer“ unerschrocken auftretenden Model, dem genialen „Meister des Rückzugs“ (Walter Görlitz), neben Erich von Manstein, dem „zweiten Moltke“, der wohl bedeutendste Heeresgeneral des 20. Jahrhunderts, gelang es Ende Juli sukzessive, den russischen Vormarsch abzubremsen. Models Rückbesinnung auf die traditionellen deutschen Stärken, bewegliche Kampfführung und Auftragstaktik, zeitigte dann jene operativen Erfolge, die den Sowjets den hohen Blutzoll von 100.000 Gefallenen, 300.000 Verwundeten und Vermißten abnötigte. Models sich um Hitlers Interventionen nicht scherende Kriegführung beweist aber zugleich, was hätte verhindert werden können, wenn Model am 22. Juni 1944 an der Stelle des devoten Befehlsvollstreckers Busch gestanden hätte.

Mit 250.000 toten, verwundeten und gefangenen Soldaten übertrafen die deutschen Verluste die Schreckenszahl von Stalingrad (60.000 Tote, 110.000 Gefangene) zwar erheblich. Im kollektiven Gedächtnis treten sie jedoch weit zurück hinter Stalingrad und dem ähnlich traumatische Prägungen hinterlassenden Scheitern des „Unternehmens Barbarossa“ vor Moskau im russischen Winter 1941.

Eine erinnerungspolitische Gedächtnislücke

Während die Tragödie an der Wolga seit Jahrzehnten das Interesse des Lesepublikums fesselt, fällt die militärhistorische Ausbeute zu dem für den Kriegsausgang ungleich wichtigeren Untergang der Heeresgruppe Mitte geradezu kümmerlich aus. Erst in den 1980ern schien dieses Desiderat überhaupt aufzufallen und in rascher Folge kamen die Studien von Thomas Kröker, Gerd Niepold und Rolf Hinze heraus, auf die sich die heute maßgebliche Darstellung des MGFA-Historikers Karl-Heinz Friesen stützt, 2007 publiziert im achten Band der quasi-offiziösen Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die das Militärgeschichtliche Forschungsamt seit 1979 vorgelegt hat. Die erinnerungspolitische Gedächtnislücke haben diese wenige Arbeiten allerdings nicht geschlossen.

Frieser erklärt die Amnesie damit, daß schon die Zeitgenossen ähnlich wie der Tagebuchschreiber Goebbels ganz auf die Westfront konzentriert waren und nach 1945 das Attentat vom 20. Juli 1944 die Katastrophe an der Ostfront verdrängte. Das klingt plausibel, läßt aber unberücksichtigt, daß diese Niederlage, anders als Stalingrad, von Goebbels’ Propaganda nicht medial vermittelt, sondern schlicht verschwiegen wurde und die über Düna und Beresina wie Napoleons Grande Armée westwärts „wandernden Kessel“ sich zudem schlecht als „Gedächtnisorte“ eignen.

Foto: Wehrmachtseinheiten der Heeresgruppe Mitte verlagern Ende Juni 1944 in Weißrußland: 1,25 Millionen Rotarmisten stürmten gegen eine Front, die letztlich von nur 330.000 deutschen Soldaten gehalten wurde

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