© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/14 / 04. Juli 2014

Schuld und Reue
Doppelbegabung zwischen Recht und Literatur: Der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink wird siebzig
Felix Dirsch

Bernhard Schlink, der am kommenden Sonntag seinen siebzigsten Geburtstag feiern kann, genießt im literarischen Leben der Bundesrepublik eine herausragende Stellung. Das hat vor allem mit seiner genuinen Fähigkeit zu tun, ein überreiches Reservoir an Bildung sowohl als Schriftsteller wie auch als Fachbuchautor umzusetzen – hier vergleichbar dem nur zwei Wochen älteren Schweizer Peter Bieri, der als Philosophieprofessor wie Belletrist („Nachtzug nach Lissabon“) große Erfolge vorzuweisen hat.

Die Journalistin Ellen Brandt brachte diese Besonderheit Schlinks vor einigen Jahren auf den Punkt: „Schlink ist virtuos in der Fähigkeit, Fragen, die wir alle im Kopf haben, und Probleme, die philosophische, soziologische, historische Erörterungen fordern, anschaulich zu machen, vom grünen Tisch auf die Bühne des Lebens zu holen.“ Bei dem verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hatte der vielseitige Gelehrte damit einen Stein im Brett, machte der langjährige Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen doch nie einen Hehl aus seinem Faible für Autoren, die in der Lage sind, ansprechende Stoffe literarisch zu verarbeiten.

1944 bei Bielefeld geboren, entstammt Schlink einer bildungsbürgerlichen Familie; sein Großvater lehrte als Professor für Mechanik in Braunschweig, sein Vater war Theologieprofessor in Heidelberg. Bernhard Schlink studierte Jura, wurde 1975 mit einer verfassungsrechtlichen Arbeit promoviert und sechs Jahre später habilitiert.

Sicher wäre Schlink auch dann in die Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik eingegangen, wenn er ausschließlich sein ursprüngliches Metier, die Rechtswissenschaft, betrieben hätte. Als Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht und Verwaltungsrecht sowie zeitweiliges Mitglied des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofes (1987–2006) verfaßte er eine Reihe von – in Fachkreisen vielbeachteten – Lehr- und Studienbüchern. An der Berliner Humboldt-Universität dozierte das SPD-Mitglied bis zu seiner Emeritierung 2009.

Auf dem Parkett der Vergangenheitsbewältigung

Doch diese Aufgaben reichten ihm nicht. Schon in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren erregte er mit einer Krimi-Reihe, der Trilogie „Selbs“, Aufsehen. Hier schlug er den Grundakkord seines Werks an: Schuld, Reue, Verbrechen, Vergangenheitsbewältigung. Der ehemalige Nationalsozialist Gerhard Selbs wird nach 1945 Privatermittler und auch in diesem Gewerbe stets mit seiner Vergangenheit konfrontiert.

Weltweit, besonders in den USA, wurde sein Mitte der neunziger Jahre publizierter Roman „Der Vorleser“ rezipiert, der auch als Kinokassenschlager mit Kate Winslet reüssierte. Die Liebe eines jungen Mannes zu einer wesentlich älteren Frau steht im Mittelpunkt der einfühlsamen Erzählung. Lange nach der Affäre, im Rahmen eines aufsehenerregenden Gerichtsprozesses, den der einstige Liebhaber als Student besucht, entpuppt sich Hanna Schmitz als KZ-Wärterin. Trotz des Schocks bleibt eine lange Verbindung zwischen beiden bis zum Tod der geheimnisumwitterten Frau.

Wer sich auf das aalglatte Parkett der Vergangenheitsbewältigung begibt, kann schnell ausrutschen. Selbst wenn er, wie Schlink, Vorsicht walten läßt. Man warf ihm vor, den Zivilisationsbruch „unter den Teppich kehren“ zu wollen (Klaus Köhler). Wieso das? Die ehemalige KZ-Aufseherin erscheint eher als Opfer denn als jemand, der andere gequält hat und nunmehr bereut. Sie wirkt mehr als Deformierte denn als Schuldige. Ihr Analphabetentum macht sie bemitleidenswert – erst recht, da dieses Handicap es ihr erschwert, zu ihrem einstigen Geliebten zu fahren, der inzwischen in den USA eine Existenz als Jurist aufgebaut hat und ihr mit (auf Tonbändern vorgelesenen) Texten hilft, schriftkundig zu werden.

Dieses Manko ist der Grund, weswegen sie im Dritten Reich nicht bei Siemens arbeiten konnte, sondern eine der verwerflichsten Aufgaben ausüben mußte, die überhaupt denkbar ist. Mancher Kritiker sieht bereits darin eine entschuldigende Absicht des Autors. Am Ende begeht Hanna Suizid. Noch etwas, was es dem Leser leichter macht, sich mit „dieser“ Person zu identifizieren, als sich von ihr zu distanzieren, wie es eigentlich geboten erscheint. Die NS-Schergin – kann sie etwas anderes als eine blindwütige Bestie sein?

Für den Hauptstrom der Vergangenheitsbewältiger ist die Antwort ein klares Nein. Schlink kommt zu einem differenzierteren Ergebnis. Da ist es für einen selbsternannten Aufklärer wie Klaus Köhler fast ein Geschenk des Himmels, wenn der Jurist vor etlichen Jahren die Friedenspreisrede Martin Walsers aus dem Jahre 1998 lobte, in der dieser die mediale „Dauerpräsentation unserer Schande“ beklagte und sich prompt eine Abfuhr vom damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, holte.

Treffen ehemaliger RAF-Gesinnungsgenossen

Dem „Vorleser“ folgen weitere Werke. Die „Liebesfluchten“ fallen etwas gegenüber den vorher veröffentlichten Büchern ab, sehr lesenswert bleibt dagegen der Band „Die Heimkehr“, der 2006 als zeitgemäße Aktualisierung der „Odyssee“ erschienen ist. Schlink waren die verstärkten Diskussionen um Flucht und Vertreibung nicht entgangen. Der Ich-Erzähler der „Heimkehr“, Peter Debauer, bekommt die Aufzeichnungen eines totgeglaubten deutschen Soldaten in die Hand, der aus russischer Gefangenschaft fliehen kann. Zu Hause angekommen, findet er einen anderen Mann an der Seite seiner Frau.

Der Erzähler versucht, den Verfasser dieses Groschenromans zu finden, der aufgrund seiner Verstrickungen im Nationalsozialismus seine Identität zu verwischen versucht. Schließlich enttarnt Debauer seinen Vater Johann, der als John de Baur an einer amerikanischen Universität Karriere macht.

Auch bei diesem Roman äußerten Kritiker den Vorwurf, daß die offenkundige Schuld des Vaters nicht näher thematisiert wird. Anspielungen auf Josef Martin Bauers „Soweit die Füße tragen“ betonte man ebenso wie angebliche Parallelen zum „Fall Schwerte/Schneider“ – eines früheren SS-Mannes, der inkognito als prominenter Germanist an der Universität Aachen gelehrt hatte.

Nach diesem neuerlichen Erfolg sind weitere Schriften auf den Markt gekommen. Stellvertretend für andere sind vor allem der Essayband „Vergewisserungen“ (2005) zu nennen, der Themen aus Politik, Recht, Schreiben und Religion behandelt, sowie der Roman „Das Wochenende“ (2010) über ein Treffen ehemaliger RAF-Gesinnungsgenossen, von denen die meisten inzwischen ein bürgerliches Leben führen. 2013 kam die Verfilmung mit Katja Riemann, Sebastian Koch, Barbara Auer in die Kinos. Für September hat sein Hausverlag Diogenes Schlinks neues Buch „Die Frau auf der Treppe“ angekündigt.

Über das Geheimnis des Erfolgs des Bestsellerautors ist öfter gerätselt worden. Seine stilistische Meisterschaft ist ohnehin unstrittig. Schlink ist es darüber hinaus gelungen, das Allerweltsthema Liebe so darzustellen, daß es genuine Züge erhält. Kaum ein Gegenwartsschriftsteller schafft es, die existentiellen (Liebes-)Erfahrungen des Menschen und die damit verbundene seelische Lebensqualität so einfühlsam zu präsentieren wie Schlink. Er ist und bleibt einer der anregendsten Autoren des deutschen Schriftstellerbetriebes – nicht zuletzt aufgrund seiner unterschwelligen Intention, die Vorgaben der auch in der Literaturkritik omnipräsenten Gedankenpolizei zu unterlaufen.

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