© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/14 / 04. Juli 2014

Wenn das Ich sich neu erfindet
Freiheitsversprechen mit ein paar Haken: Der Mensch soll sich permanent anpassen und unterwerfen
Thorsten Hinz

Es genügt nicht mehr, „sich weiterzuentwickeln“, „neue Wege zu gehen“, „zu neuen Ufern aufzubrechen“ oder sich „neu aufzustellen“. Heute erfindet man sich neu! Wer die Phrase bei Google eingibt, stößt auf Selbsterfinder beziehungsweise Neuerfinder der unterschiedlichsten Art: auf ThyssenKrupp und den Harz-Tourismus, auf das Großherzogtum Luxemburg und das Programmkino, auf die Wirtschaftswissenschaften, die todwunde FDP, die Weltmacht USA, den deutschen Einzelhandel und die Marketing-Branche. Sogar die Antifa fühlt sich bemüßigt, ein neues Selbst zu entwerfen, denn „Heroismus war gestern“.

Die Formulierung hat sich flächendeckend durchgesetzt. Im elektronischen Archiv der Wochenzeitung Die Zeit taucht sie erstmals im April 1990 auf: „Ein Beruf, der sich neu erfindet“, lautet die Überschrift zu einem Artikel, der über desorientierte DDR-Architekten berichtet. Ab 1994 kommt die Formulierung regelmäßig vor, zunächst ein- bis zweimal pro Jahr, dann immer öfter, bis sie zur stehenden Redewendung geworden ist. Man könnte sie als typische Marketingsprache und Modeerscheinung belächeln, wenn sie nur Körperschaften, Organisationen oder die Produktwerbung beträfe. Doch sie zielt zunehmend auf das Individuum. Hier wird sie problematisch und zum sanften Unwort.

Vordergründig suggeriert sie ein grenzenloses Freiheitsversprechen: Jeder könne, dürfe, solle zum Prometheus und Faust seiner selbst, zum Neuschöpfer der eigenen Persönlichkeit werden. So viel Freiheit, Grenzen zu überwinden und Kreativpotential freizusetzen, raunt es, gab es noch nie! Doch die Sache hat ein paar Haken: Die Suggestion wird verknüpft mit den Vokabeln „flexibel“ und „vielfältig“, die aus den Sprachlabors des Neoliberalismus und des Multikulturalismus stammen. Die Aufforderung, zum Neuschöpfer seines Ich zu werden, schließt die Zumutung ein, es als Objekt, als Material und Steinbruch zu betrachten, um es umzubauen, zu optimieren und kompatibel zu machen.

Wie bescheiden, demütig und bieder klingt noch der Begriff „Selbstverwirklichung“, der durch die 68er-Studentenrevolte in die Alltagssprache einging. Die Selbstverwirklichung – eine Idee, deren Anfänge auf die Frühzeit der Psychoanalyse zurückgehen – diente als Rammbock für eine Kulturrevolution. Ihr Ziel war die befreite Persönlichkeit, welche die autoritäre und potentiell faschistische Gesellschaft umstürzt.

Das meiste, was sich durch die Bewegung „verwirklicht“ hat, ist allerdings bloß peinlich, schädlich, verantwortungslos und wäre besser im Korsett der Konventionen geblieben. Dennoch war die Idee vergleichsweise anspruchsvoll. Denn Selbstverwirklichung setzt immerhin ein unverfügbares, autonomes, transzendentes Selbst voraus, das vor äußeren Gewalten beschützt, von ihnen befreit und dadurch eben „verwirklicht“ werden soll.

Eine andere Wurzel reicht in den deutschen Idealismus. Friedrich Schiller hat in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ ein ganzes Erziehungsprogramm entworfen. Er sah den Menschen von einem Stoff- und einem Formtrieb bewegt. Mit dem Stofftrieb meinte er die tätige Veränderung im „physischen Dasein“, innerhalb der materiellen Welt, der konkreten Zeit und der sie prägenden Umstände und Zwänge. Der Formtrieb hingegen „hebt die Zeit, er hebt die Veränderung auf; er will, daß das Wirkliche notwendig und ewig und daß das Ewige und Notwendige wirklich sei; mit anderen Worten: er dringt auf Wahrheit und Recht“.

Diese beiden Pole, zwischen denen der Mensch steht: die konkrete Zeitlichkeit und das Streben nach Ewigkeit und Transzendenz, lassen sich im wirklichen Leben nicht zur Deckung bringen. Doch kann es der Kunst gelingen, die ersehnte Einheit symbolisch vorwegzunehmen. Der Betrachter, Leser oder Hörer erfährt, wie sich im vollendeten „Stofftrieb“ des Künstlers zugleich ein Gleichnis für das Ewige manifestiert. Durch das erhabene Erlebnis wird er bereits „in seinem bloß physischen Leben der Form“ unterworfen und „ästhetisch“ gemacht. Der ästhetische Zustand, meinte Schiller, würde ihm zu einer besseren, höheren Moral verhelfen, die über sein Handeln im Alltag – „über das physische Bedürfnis“ – ihren „mildernden Schleier“ ausbreitet.

Dieses idealistische Streben ist den Verkündern des Sich-neu-Erfindens völlig fremd. Ihnen geht es nicht darum, den Menschen über die Umstände, in die er gestellt ist, hinauswachsen zu lassen. Im Gegenteil, er soll sich ihnen permanent neu anpassen und unterwerfen. Der Selbst- und Neuerfinder ist einer, der den fremdbestimmten Prozeß als selbstbestimmte und sogar schöpferische Handlung erlebt und seine Kreativität in die zweckrationale Umschaffung und Verwertung seines Ich investiert. Für ihn ist es ein Ausweis für Freiheit und Selbstbestimmung, wenn er den äußeren Gewalten sein Innerstes zur Verfügung stellt. Das ist eine konsequent diesseitige Lebensphilosophie, die, um mit Schiller zu reden, die besinnungslose Hingabe an den Stofftrieb verlangt, der den Formtrieb, die Sehnsucht nach Transzendenz und dem Ewigen, absorbiert hat.

Der verschwundene Formtrieb hinterläßt offenbar nicht einmal einen Phantomschmerz. Um die Zeit aufzuheben, braucht es heute keine Kunstrezeption, kein Wunder, keine religiöse Ergriffenheit und keinen Proustschen Augenblick mehr. Sie findet täglich statt im rasenden Wechsel der Bilder, die eine permanente, mal mehr, mal weniger unterhaltsame Gegenwart vorspiegeln. Sich neu zu erfinden heißt, auf das sich immer schneller drehende Karussel aufzuspringen und seinen Spaß dabei zu haben.

Da keine Spannung zwischen Stoff- und Formtrieb mehr besteht, ist auch kein „ästhetischer“ Zustand des Menschen mehr möglich. Daraus folgt die Negation und Perversion des Ästhetischen, die ihren Höhepunkt zuletzt im Zwitterwesen der Conchita Wurst erreicht hat. Und auch dieser Höhepunkt ist nur ein vorläufiger. Denn wenn der Mensch sich nur noch als Material begreifen kann, was hindert ihn dann, eines Tages verändernd in seine genetische Substanz einzugreifen? Der eigenen Neuerfindung jedenfalls sind keine Grenzen gesetzt.

Foto: Chamäleon: Einige Arten verfügen über die erstaunliche Fähigkeit, ihre Farbe je nach äußeren Einflüssen, aber auch Gemütszuständen sehr schnell zu wechseln. Sprichwörtlich ist das Chamäleon als Begriff für Menschen geworden, die sehr wandelbar sind und es verstehen, sich jeder Situation anzupassen.

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