© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

Visite beim stolzen Vasallen
In der Interessenpolitik der USA gegenüber Polen wandelt Präsident Obama auf den Spuren seines Vorgängers Franklin D. Roosevelt
Thorsten Hinz

Bevor US-Präsident Barack Obama zur D-Day-Feier an die französische Atlantikküste fuhr, hatte er in Warschau Station gemacht und Polen den uneingeschränkten militärischen Beistand der USA zugesichert. Was unter Nato-Partnern eine Selbstverständlichkeit ist, enthält im aktuellen Kontext eine Spitze gegen Rußland. Obama sagte, er wisse, daß Polen in der Geschichte von seinen Freunden dann verraten wurde, als es sie am meisten brauchte, und versicherte: „Ihr werdet nie mehr allein sein.“ Er wolle beim Kongreß eine Milliarde US-Dollar für die Stärkung der militärischen Präsenz in Osteuropa beantragen, um die Verteidigungsfähigkeit von Ländern wie der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien zu stärken.

Die USA bleiben in Europa verankert und wollen es als Basis nutzen, um über das Nato-Gebiet hinaus in das zerbrochene russische Imperium hineinzuwirken. Dem „Neuen Europa“ der ehemaligen Ostblock-Staaten kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Polen wünscht sich US-Truppen als Garanten gegen eine russische Bedrohung. Sollten Deutschland und Frankreich sich einmal entschließen, die europäische Eigenständigkeit zu betonen und zu diesem Zweck mit Rußland zu kooperieren, könnte es als Sperriegel dienen.

Die moralische Basis dafür bildet ein Geschichtsbild, in dem Polen als Opfer zweier totalitärer Regime fungiert, das von den westeuropäischen Partnern verraten und von den Amerikanern schließlich gerettet wurde. Für die Polen bedeutet das seelische Labsal und politische Erhöhung, für die Westeuropäer eine Ohrfeige, für Deutsche und Russen die historische Strafbank, für die USA aber die Bestätigung der Außenpolitik von Präsident Franklin D. Roosevelt.

Dessen Interventionspolitik entsprang jedoch keinem Idealismus, und Polen war darin nur eine Schachfigur. Sie begann mit der „Quarantäne-Rede“ vom Oktober 1937, in der Roosevelt behauptete, „Friede, Freiheit und Sicherheit für neunzig Prozent der Weltbevölkerung (würden) durch die restlichen zehn Prozent bedroht“. Der Vorwurf zielte auf Deutschland, Italien und Japan, nicht aber auf die Sowjetunion. Er, Roosevelt, sei „entschlossen, eine Politik des Friedens zu führen und alle zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um den Krieg von uns fernzuhalten“. Im April 1939 sandte er an Hitler und den italienischen Diktator Mussolini eine Botschaft, in der er sie aufforderte, zu versichern, eine Reihe von aufgeführten Länder nicht angreifen zu wollen. Weder hatten sie ihn darum gebeten noch autorisiert. Es handelte sich um einen Propagandacoup, der dazu diente, Italien und vor allem Deutschland vor der Weltöffentlichkeit als Feinde der Menschheit zu präsentieren.

Die Aktivitäten, die den isolationistischen Neigungen der Amerikaner strikt zuwiderliefen, sollten von Wirtschaftsproblemen der USA ablenken. Auch sorgte sich der Präsident, daß Europa unter deutscher Führung einen abgeschlossenen Wirtschaftsraum bilden könnte. Das Zollsystem des britischen Empires war ihm gleichfalls ein Dorn im Auge. Amerikas Grenze, äußerte er Anfang 1939 im kleinen Kreis, verlaufe am Rhein!

Polen als Schachfigur der europäischen Mächte

Parallel dazu bemühte er sich, die Beziehungen zur Sowjetunion zu verbessern. Sein Botschafter in Moskau, Joseph E. Davies, mit dem er persönlich befreundet war, nahm Stalins Massenmorde, den Geheimdienstterror und die Monstrosität der Moskauer Prozesse durchaus wahr, er bagatellisierte sie aber systematisch und empfahl die Sowjetunion als Partner, weil er in ihr die einzige Macht erkannte, die den USA ebenbürtig war. Als fernere Möglichkeit faßte Davies immerhin ihren Zerfall – durch die Abspaltung Weißrußlands, der Ukraine, des Kaukasus, Sibiriens usw. – ins Auge. Als „dritten Fall“ nannte er eine Situation, die die natürlichen Reichtümer Rußlands mit den organisatorischen, wissenschaftlichen und industriellen Methoden Deutschlands vereinen könnte: Ein Alptraum, der einen „großen Einfluß“ auf die Welt haben würde. Es lag nahe, darauf hinzuarbeiten, Deutschland als den schwächsten Akteur aus dem Spiel zu nehmen.

In Warschau wurde die antideutsche Tendenz in der amerikanischen Außenpolitik aufmerksam registriert. In der Berichterstattung der polnischen Botschafter in Washington, Paris und London – Graf Jerzy Potocki, Graf Edward Raczyński und Jules Łukasiewiecz – bildete sie 1938 und 1939 ein ständiges Thema. Ziel der USA sei es, „den Widerstand Frankreichs zu unterstützen, den deutsch-italienischen Druck zu hemmen und die Kompromißtendenzen Englands zu schwächen“, schrieb Graf Potocki aus Washington.

Aus Paris ergänzte Łukasiewiecz nach einem Gespräch mit seinem US-Kollegen William C. Bullitt: „Die Vereinigten Staaten verfügen England gegenüber über verschiedene und ungeheuer wirksame Zwangsmittel.“ Hingegen hoben die Amerikaner die kompromißlose Haltung Warschaus lobend hervor – und das vor dem Hintergrund zunehmender Übergriffe gegen die deutsche Minderheit in Polen. Ein bewaffneter Konflikt war einkalkuliert. „Sollte ein Krieg ausbrechen, so werden wir sicherlich nicht zu Anfang an ihm teilnehmen, aber wir werden ihn beenden“, gab Łukasiewiecz seinen Kollegen wieder, der eben aus Washington „mit einem ganzen ‘Koffer’ voll Instruktionen, Unterredungen und Direktiven vom Präsidenten Roosevelt“ zurückgekehrt war.

Die polnischen Diplomaten machten deutlich, daß die „maßgeblichen Washingtoner Kreise“ nicht aus Ideologie oder Idealismus handelten, sondern „ausschließlich (...) die realen Interessen der Vereinigten Staaten“ verteidigten. In Warschau zog man aber daraus den fatalen Schluß, Polen könne es sich leisten, seine Beziehungen zu Deutschland weiter zu kompromittieren und die Spannungen anzuheizen. Als der Krieg begann, stellte es fest, daß es allein dastand.

Die USA schoben 1945 ihre Grenze vom Rhein an die Elbe vor. Jetzt stehen sie am Bug und haben Dnepr und Don im Blick. Präsident Obama sagte in Warschau in schönster Roosevelt-Manier: „Die Freiheit in Europa ist niemals garantiert.“ Und: „Die Zeiten von Imperien und Einflußsphären sind vorbei.“ Ob an dieser Stelle gelacht wurde – wenigstens hinter vorgehaltener Hand –, ist nicht übermittelt.

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