© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

Wir müssen wählerisch werden
Die Macht der Bilder: Tag für Tag erreichen uns Informationen über das Auge ungefiltert
Karlheinz Weissmann

Pro Tag werden über Facebook etwa 350 Millionen Fotos geladen, insgesamt sind es schon mehr als 250 Milliarden, nicht eingerechnet die zahllosen Videos. Das Spektrum reicht vom „selfie“ bis zum Urlaubsbild, von der Momentaufnahme bis zur mehr oder weniger sorgfältigen Inszenierung. Fotografiert werden Menschen, Tiere, Landschaften, Gegenstände jeder Art, Alltags- und Ausnahmesituationen, Belangloses, Komisches, Furchtbares.

Facebook ist nicht das einzige soziale Netzwerk, das die Möglichkeit des „Teilens“ bietet; vor kurzem erregte weltweites Aufsehen, daß die islamistische Terrorgruppe Isis via Twitter Fotos von brutalen Massenexekutionen im Irak verbreitete. Der Vorgang löste Irritation aus, aber nur für einen Moment. Dann kehrte alles in den gewohnten Zustand zurück.

Dieser ist davon geprägt, daß jeder jederzeit eine Kamera bei sich führt, vor allem im Mobiltelefon, die problemlose Bedienbarkeit bei hoher Qualität der erzielten Ergebnisse gewährleistet, während die Möglichkeit der Virtualisierung eine rasche und problemlose Verbreitung erlaubt. Die letzte technologische Revolution liegt nur wenige Jahre zurück, aber sie hat eine Bildlawine ausgelöst, die uns Tag für Tag überrollt. Das Medium, das den längsten Zeitraum der Geschichte Ausnahme war, ist zur Regel geworden.

Bilder mußten in der Vergangenheit aufwendig hergestellt werden, nur einzelne besaßen das Talent und die Fähigkeit zur Gestaltung, die Vervielfältigung blieb ein kaum lösbares Problem. Erst mit der industriellen Revolution kamen neuartige Verfahren auf, die die Reproduktion erleichterten, aber noch immer relativ teuer und kompliziert waren. Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Text in Publikationen der Normalfall, das Bild war Zugabe, oft genug Luxus. Die „Illustrierte“ als Zeitschrift war ein neuartiges Phänomen, konnte sich erst in der Wohlstandsgesellschaft Stück für Stück durchsetzen.

Dann verschob sich das Gewicht immer schneller, zuerst weg vom stehenden Bild hin zum bewegten, dann von der Schwarzweiß-Wiedergabe zum Farbbild, parallel dazu von der Sparsamkeit des Einsatzes zur Allgegenwart. Am Ende des 20. Jahrhunderts fielen die letzten Schranken und führte die EDV dazu, daß sich der Mensch der Gegenwart permanent von Bildern umgeben sieht, deren technische Perfektion und Präsenz alles übertrifft, was früher vorstellbar war.

Der neue Zustand wurde keineswegs ohne Kritik hingenommen. Von der Neigung zum Exhibitionismus war die Rede, vor allem bei Jugendlichen, die Intimstes preisgeben und zur Schau stellen, von der Gefahr der Manipulierbarkeit durch veränderte oder gefälschte Aufnahmen, aber auch von einer Abstumpfung gegenüber anderen Sinneseindrücken als den optischen.

Was diesen letzten Punkt betrifft, so wird man ihn besonders ernst nehmen müssen, denn er verweist auf eine Tradition der Bildkritik, die nicht von aktuellen Erscheinungen ausgeht, sondern von älteren Überlegungen, die tief in der abendländischen Geistestradition wurzeln. Dabei spielt vor allem das biblische Bilderverbot eine Rolle, das eben nicht nur auf Gott bezogen werden kann, sondern darüber hinaus Skepsis gegenüber der optischen Beeindruckbarkeit des Menschen züchtet. Weiter geht es um alle Theologie, die das Bild vielleicht duldete oder zur Verherrlichung Gottes sogar vorschlug, aber gleichzeitig den Kontrast aufrechterhalten wissen wollte zwischen der optischen Kärglichkeit des Gewöhnlichen und der optischen Pracht des Außergewöhnlichen. Schließlich ist die in Humanismus und Reformation wurzelnde Fixierung auf Wort und Schrift als Träger der Botschaft zu erwähnen und die damit einhergehende Askese gegenüber dem leichter zugänglichen, tendenziell überwältigenden, nicht den Verstand, sondern das Gefühl ansprechenden Bild.

Dieses europäische Bemühen um Hemmung war eine außergewöhnliche kulturelle Leistung. Sie hat niemals zur Bilderfeindlichkeit geführt, wie sie andere Kulturen kennen, aber zu einer gewissen und gesunden Skepsis gegenüber der Macht des Bildes. Denn diese Macht gehört zur Natur unserer Spezies, schon weil sich bei unseren Vorfahren parallel zur Vergrößerung des Gehirns eine Verschiebung in der Wahrnehmungspräferenz ergab: weg vom Geruchs- und hin zum Sehsinn, der in einer vielgestaltigen, dreidimensionalen Umwelt zu den Selektionsvorteilen gehörte.

Die Folgen dieses Schritts der Evolution sind kaum zu überschätzen. Bis heute erhalten wir achtzig Prozent aller Informationen über das Auge, selbst das Abstrakte unserer Vorstellungen orientieren wir an Bildern – wie die moderne Hirnforschung mit Nachdruck betont – und letztlich können wir nicht anders, als uns ein „Welt-Bild“ zu machen.

Die Erfüllung dieser zentralen Aufgabe setzt aber Unterscheidungsfähigkeit voraus und die Existenz von Filtern. Und die seit den sechziger Jahren immer wieder aufflammende Diskussion über die Macht des Bildes im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – ausgelöst durch den Siegeszug des Fernsehens – hat zwar von Fall zu Fall das Bewußtsein geschärft, welche Gefahren lauern, aber keine Abhilfe geschaffen.

Dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe: die Bedeutung des Bildes als Herrschaftsmittel, auch und gerade in jenen Weltgegenden, deren Bevölkerung analphabetisch ist, aber Zugang zu modernen Medien hat und durch Imagokraten mobilisiert und kontrolliert wird; die Tendenz der Massengesellschaft zur Unterhaltung auf niedrigem Niveau, ein Bedürfnis, das mittels Bild am einfachsten befriedigt werden kann.

Dagegen Widerstand zu leisten ist äußerst schwierig. Im Grunde bleiben nur Erziehung oder Resignation. Wer sich gegen die Resignation entscheidet, der sei auf den eigentümlichen Begriff „Adel des Sehens“ hingewiesen, den Hans Jonas geprägt hat und der sich darauf bezog, jene Fähigkeit zu schulen – wenigstens an einzelnen – die es erlaubt, sich vor der Bilderflut zurückzuziehen und wählerisch zu werden.

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