© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

„Es droht ein neuer Libanon“
Der rasante Vormarsch der dschihadistischen Isis hat den Irak erneut ins Chaos gestürzt. Droht nun die Machtübernahme der Islamisten? Kommt gar das Ende des Irak? „Ja“, sagt Nihad Qoja, Bürgermeister der Metropole Erbil im Norden des Landes, der Staat stehe vor dem Aus.
Moritz Schwarz

Herr Qoja, ist das das Ende des Irak?

Qoja: Im Grunde ja.

Was wird passieren?

Qoja: Der Irak wird in drei Teile zerfallen: einen kurdischen im Norden, einen sunnitischen im Westen und einen schiitischen im Süden.

Aber ist das eigentlich nicht schon seit 2003 der Fall?

Qoja: Stimmt.

Was ist dann ab jetzt anders?

Qoja: Lange bestand die Hoffnung, diese Spaltung durch eine erfolgreiche Politik der Zentralregierung in Bagdad zu überwinden. Mit dieser Krise ist diese Hoffnung gestorben.

Was bedeutet das?

Qoja: Es wird kein Zurück zur Situation vor Ausbruch dieses Konfliktes geben. Ab jetzt wird sich die Spaltung des Landes nur noch vertiefen.

Konkret?

Qoja: Im besten Fall kommt ein noch loseres Staatsgebilde als heute dabei heraus, vielleicht sogar nur noch eine Konföderation, also ein Staatenbund. Im schlimmsten Fall zerfällt der Irak ganz, und es entstehen drei neue, völlig voneinander unabhängige Staaten auf seinem Territorium.

Wenn der Irak aufgeteilt wird, gibt es dann nicht Streit um Grenzgebiete und Anlaß für neue Kriege?

Qoja: Das sehe ich nicht, denn die Grenzen zwischen den Gebieten der Sunniten, Schiiten und Kurden sind eigentlich gut erkennbar.

Aber die Kurden haben bereits Kirkuk – außerhalb ihres Autonomiegebietes gelegen – besetzt, das im Zuge der Auseinandersetzung mit den Aufständischen von der irakischen Armee geräumt worden ist.

Qoja: Das stimmt, allerdings mußten wir das tun, um zu verhindern, daß die Aufständischen sich dort festsetzen. Zudem handelt es sich klar um kurdisches Gebiet und daher werden wir auch dort bleiben. Und ich glaube, das wird man in Bagdad akzeptieren. Nein, ich sehe nicht irgendwelche Grenzstreitigkeiten als das Problem des Irak, sondern das Problem liegt im bereits existierenden sunnitisch-schiitischen Konflikt, von dem ich nicht weiß, wie er gelöst werden kann.

Das heißt also, die USA sind mit ihrem Projekt im Irak gescheitert?

Qoja: Nicht was den kurdischen Norden angeht. Wir haben dort Stabilität, gesellschaftlichen Aufbau, funktionierende demokratische Institutionen. Ansonsten aber: Ja, auf ganzer Linie! Leider. Denn anstatt den Staat demokratisiert zu haben, steht er nun vor seinem Ende.

Als die USA 2011 ihre Truppen abzogen, haben diese allerdings verkündet, sie hätten den Kampf gewonnen.

Qoja: „Gewonnen“ hätten sie, wenn es ihnen gelungen wäre, das Land ohne diesen Konflikt zu hinterlassen.

Warum haben die USA dann ihren Sieg erklärt?

Qoja: Weiß ich nicht, das fragen Sie mal Präsident Obama.

Sie haben schon 2011 in den deutschen Medien vor dem Abzug der US-Truppen gewarnt.

Qoja: Ich habe damals gewarnt, daß der Irak ohne die Amerikaner zu schwach sein würde angesichts der Einflüsse aus dem instabilen Syrien und angesichts der Einflußnahme des Iran. Und ich habe prophezeit, daß die Person des Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki die Ursache der allerschlimmsten Probleme sein werde.

Ziemlich genau so ist es jetzt gekommen.

Qoja: Nach dem Sturz Saddam Husseins hatten wir gehofft, daß die neue demokratische Regierung alle Volksgruppen gleich behandeln werde. Leider war das nicht der Fall. Für al-Maliki, einen Schiiten, sind Sunniten und Kurden Bürger zweiter Klasse.

Al-Maliki regiert schon seit 2006, warum ist der Aufstand erst jetzt ausgebrochen?

Qoja: Weil er nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit nun erklärt hat, für eine dritte zu kandidieren.

Aber dazu hat er doch das Recht.

Qoja: Natürlich – dennoch haben ihn die Sunniten satt. Sie fürchten gerade, daß er von den Schiiten wiedergewählt werden könnte. Die Sunniten sind nicht bereit, ihn noch länger zu akzeptieren.

Also genügt eine Regierungsumbildung, wie von US-Außenminister Kerry gefordert, nicht – al-Maliki muß abtreten, wenn der Irak gerettet werden soll?

Qoja: Wenn es dafür überhaupt noch eine Chance geben sollte, dann nur, wenn er verschwindet. Al-Maliki hat nicht nur die Sunniten benachteiligt, er hat auch versucht, eine diktatorische Herrschaft aufzubauen, hat Ämter angehäuft – war gleichzeitig Ministerpräsident, Innen- und Verteidigungsminister, Geheimdienst- und Armeechef, sowie Zentralbankpräsident –, hat Gegner foltern oder töten lassen. Ein weiterer großer Fehler war, daß er viele altgediente sunnitische Armeeoffiziere loszuwerden versuchte, um ihre Posten mit Schiiten zu besetzen. Statt sie zu integrieren, hat er dafür gesorgt, daß sie nutzlos und voller Groll zu Hause saßen und auf eine Gelegenheit sannen, sich zu rächen. Außerdem hat al-Maliki die Versorgungslage nicht in den Griff bekommen. Es gibt keine Sicherheit, keine Stabilität, keinen Aufschwung, oft keinen Strom. Dabei ist der Irak wegen seines Öls ein reiches Land. Die Leute wissen das und akzeptieren es nicht, in Armut leben zu müssen. Nur wir Kurden sehen das entspannter, weil wir, wie gesagt, unser eigenes autonomes Gebiet haben, in dem die Lage eine ganz andere ist. Die Sunniten aber haben auf die Krise und die Ungleichbehandlung nun mit einem Aufstand reagiert.

Unterstützt von den aus Syrien ins Land flutenden Kämpfern der Gruppe „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (Isis).

Qoja: Ja, aber Sie dürfen die Aufständischen nicht alle in einen Topf werfen. Isis ist nur ein Teil, daneben gibt es etwa ehemalige Baathisten – also Parteigänger Saddam Husseins – oder einfach sunnitische Stammesführer. Auch haben sie ganz unterschiedliche Ziele. Die Stammesführer wollen die Benachteiligung der Sunniten beenden, die ehemaligen Baathisten Rache für den Sturz Saddam Husseins und Isis ein Kalifat errichten.

Wird Isis das gelingen?

Qoja: Dafür sehe ich keine Chance. Denn niemand im Mittleren Osten will so einen Staat. Doch im Moment erscheint Isis den Sunniten willkommen, um den Druck auf al-Maliki zu erhöhen.

Isis hat bereits die Metropole Mossul erobert. Werden sie nun auch das nahe Erbil und die autonome Kurdenregion angreifen?

Qoja: Nein, denn es handelt sich um einen Konflikt zwischen den Sunniten und den Schiiten in Bagdad.

Aber wenn ihr Ziel ein Kalifatstaat ist, dann ist sind doch auch die islamischen Kurdengebiete nicht sicher.

Qoja: Stimmt, aber Isis weiß, daß wir Kurden zu stark für sie sind. Wir haben eine schlagkräftige Miliz, die Peschmerga, zudem eine funktionierende Polizei und einen effektiven Geheimdienst. Wir sind gut ausgerüstet und unsere Kämpfer motiviert. Und Isis ist einfach nicht in der Lage, an zwei Fronten zu kämpfen.

Inzwischen stehen die Kämpfer der aufständischen Sunniten bei Falludscha, fünfzig Kilometer westlich von Bagdad. Wird es ihnen gelingen, die Hauptstadt zu nehmen?

Qoja: Dazu reicht ihre Kraft nicht.

Wie geht der Kampf dann aus?

Qoja: Es wird keinen Sieger geben.

Sondern?

Qoja: Unsere Befürchtung ist, daß der Irak sich zu einem zweiten Libanon entwickelt, also jahrelanger Bürgerkrieg.

Dann hätte sich das US-Projekt für den Irak endgültig in eine Katastrophe verwandelt.

Qoja: Für den Rest des Irak, ja. Wir Kurden dagegen sind froh, den blutigen Tyrannen Saddam Hussein los zu sein und nun unsere eigene Region zu haben.

Nun wollen sich die USA erneut einmischen, können sie diesen Krieg gewinnen?

Qoja: Nein, zumal sie ja keine Infanterie schicken wollen.

Dafür Ausbilder, vielleicht auch Kampfflugzeuge und Drohnen.

Qoja: Das genügt nicht, um eine endgültige Entscheidung herbeizuführen.

Sollten die USA erneut im großen Stil in den Irak einmarschieren?

Qoja: Nein, ein solcher Einmarsch würde mehr schaden als nützen.

Warum?

Qoja: Die USA hätten 2011 nicht abziehen dürfen, weil so ein Vakuum entstanden ist, in dem der Konflikt erst richtig ausbrechen konnte. Jetzt aber ist es zu spät. Würden sie zurückkehren, würde das den Konflikt nur weiter anheizen.

Wie lange hätten die USA denn noch im Irak bleiben sollen?

Qoja: Ich schätze, noch mindestens weitere zehn Jahre.

Nun fassen die USA eine Zusammenarbeit mit dem Iran ins Auge, um den Vormarsch der Isis zu stoppen.

Qoja: Da bin ich sehr gespannt, wie Amerika mit seinem ehemaligen Erzfeind zusammenarbeiten will. Sehr zu befürchten ist, daß das den Einfluß des Iran im Irak weiter erhöhen könnte. Dabei ist ebendieser Einfluß eine der Wurzeln des Problems. Denn gerade die Unterstützung des schiitischen Iran für al-Maliki und die Schiiten im Irak hat wesentlich dazu beigetragen, die Einheit des Landes zu untergraben.

Die Kurden träumen schon lange von einem eigenen Staat. Warum nutzen sie die Lage nicht und erklären sich unabhängig?

Qoja: Das stimmt, aber wir waren immer bereit, diesen Wunsch zurückzustellen, wenn der Irak funktioniert. Tatsächlich haben wir stets versucht, zwischen Schiiten und Sunniten zu vermitteln und den Irak zu erhalten. Sollte er aber zerfallen, werden wir natürlich nicht zögern, unseren eigenen Staat zu gründen.

Auch im zerfallenden Syrien leben Kurden. Gibt es Gedankenspiele für einen Zusammenschluß?

Qoja: Nein, auf keinen Fall werden wir die Grenzen bestehender Staaten in Frage stellen, das gilt auch für den Iran und die Türkei, wo ebenfalls Kurden leben. Was aber ein Thema für uns ist, sind die Rechte der kurdischen Minderheiten in diesen Staaten, nicht jedoch die Einigung aller Teile Kurdistans. Das ist Fiktion.

 

Nihad Salim Qoja, ist seit 2004 Bürgermeister von Erbil. Die Metropole im Norden des Irak ist mit über einer Million Einwohnern nach Bagdad, Basra und Mossul die viertgrößte Stadt des Landes und die Hauptstadt des irakischen Kurdistan. Und sie gilt mit einem Alter von 8.000 Jahren als eine der ältesten Städte der Welt. 1957 in Erbil geboren, betätigte sich der damalige Sportlehrer als Oppositioneller im Untergrund für die kurdische Sache und gegen das Regime Saddam Husseins. 1981 floh er nach Deutschland, arbeitete hier als Dolmetscher und setzte seine Oppositionsarbeit fort. Nach dem Sturz des Diktators kehrte Qoja 2004 in seine Heimat zurück. Seine Familie lebt allerdings weiterhin in Bonn. Qoja ist Mitglied der kurdisch-national ausgerichteten Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) des Kurdenführeres Masud Barsani, die neben der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) von Staatspräsident Dschalal Talabani eine der beiden großen kurdischen Parteien im Irak ist.

www.kdp.se

Foto: Isis-Kämpfer präsentieren sich stolz in Falludscha auf einem erbeuteten ehemaligen US-Militärfahrzeug der irakischen Streitkräfte: „Die USA sind auf ganzer Linie gescheitert“

 

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