© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/14 / 20. Juni 2014

Er suchte die große Inszenierung
Mangel an Maßstäben: Ein ehrlicher Nachruf auf den verstorbenen „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher
Karlheinz Weissmann

Am 12. Juni starb Frank Schirrmacher. Damit endete, man darf wohl sagen: vor der Zeit, eine der eindrucksvollsten Karrieren des deutschen Journalismus. Schirrmacher wurde nur vierundfünfzig Jahre alt. Am 5. September 1959 als Beamtensohn in Wiesbaden geboren, besuchte er das private Humboldt-Gymnasium seiner Heimatstadt und nahm dann ein Studium der Germanistik und Anglistik, Literaturwissenschaft und Philosophie auf. Als Studienorte nannte er gewöhnlich die renommierten Universitäten Heidelberg und Cambridge. Allerdings wurde seine Doktorarbeit „Schrift als Tradition. Die Dekonstruktion des literarischen Kanons bei Kafka und Harold Bloom“ 1987 von der Gesamthochschule Siegen angenommen.

Sonst ist wenig bekannt über die Biographie dieses Mannes, der immerhin zu den global thought leaders zählte. Er selbst tat nichts, den Schleier zu heben. Abgesehen von der Tatsache, daß er zweimal verheiratet war, aus erster Ehe ein Sohn und eine Tochter stammen, weiß man kaum etwas über den Privatmann Schirrmacher. Der Spiegel hat früh auf diesen Umstand hingewiesen und auch auf gewisse Ungereimtheiten in bezug auf die Entstehung der Dissertation. Aber das mochte dem kollegialen Unbehagen am steilen Aufstieg des jungen Mannes geschuldet sein, der zum Zeitpunkt der Promotion immerhin schon zwei Jahre Redakteur der Frankfurter Allgemeinen war, 1990 deren Literaturressort übernahm und am 1. Januar 1994 – als jüngstes jemals ernanntes Mitglied – in das Herausgebergremium der Zeitung eintrat.

Joachim Fest förderte den „Kindergarten“

Bereits unmittelbar nach einer Hospitanz im Herbst 1984 war Schirrmacher von Joachim Fest, seinem Vorgänger als Herausgeber, eingestellt und dann systematisch gefördert worden. Er nutzte seine Stellung, um andere junge Männer, ähnlich unerfahren wie er selbst, ins Feuilleton der FAZ zu holen. In „Fests Kindergarten“, wie man spöttisch sagte, fanden sich neben Schirrmacher Gustav Seibt, Jens Jessen und Patrick Bahners. Von diesen blieb nur Bahners auf Dauer.

Das hatte auch damit zu tun, daß das „Wunderkind“ (Bunte), der „Überflieger“ (Spiegel), der „Kindkaiser“ (Süddeutsche Zeitung) Schirrmacher eine an eigenen Vorlieben und Abneigungen, momentanen Präferenzen und Tagesformen orientierte Personalpolitik betrieb. 1996 kam es noch zu einem Beschwerdebrief von elf Redakteuren, darunter Schirrmachers ehemaliger Intimus Seibt, wegen der „beunruhigenden Verschlechterung des Arbeitsklimas“, kurz darauf äußerte ein Korrespondent nur mehr resigniert: „Da sitzt er feist und demütigt Kollegen, und ein paar andere lachen drüber“, und Fest verweigerte schon jeden Kommentar zum Werdegang seines Protegés.

Kritik an seinem Führungsstil machte Schirrmacher sowenig irre wie die Zahl der Rückschläge, die er bei energischen Anläufen zum Ausbau des Kulturteils erlitt: bei der Rekrutierung von Paradiesvögeln wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Florian Illies, bei der Entwicklung der Berlin-Seiten, beim Versuch, die Feuilletonredaktion ganz in die Hauptstadt zu verlegen. Nichts davon hat ihm wirklich geschadet.

Ganz im Gegenteil, könnte man meinen, und mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts setzte Schirrmachers eigentlicher Höhenflug an. Das einflußreichste Feuilleton der Republik nutzte er nicht mehr nur für Kommentar und Kritik, er definierte einen neuen Auftrag: Themen setzen, mit denen sich die Öffentlichkeit zu befassen hatte. Wer anfangs glaubte, daß trotzdem eine im großen und ganzen bürgerliche Linie gehalten würde, konnte sich nicht nur auf Schirrmachers Polemik gegen die Gruppe 47, die Achtundsechziger und den Einfluß von Günter Grass oder Christa Wolf berufen, sondern auch auf die vorsichtige Rehabilitierung verfemter literarischer Traditionen – Stefan George, Ernst Jünger –, das Gerücht einer besonderen Nähe zum Kanzleramt in der Ära Kohl, und die Schonung des konservativen Personalbestands.

Daß der Optimismus unbegründet war, ließ allerdings schon die scharfe Kehrtwende des Feuilletons im Historikerstreit vermuten. Bis dahin hatte die FAZ zu Ernst Noltes wichtigsten publizistischen Verbündeten gehört, jetzt verlor er auch diesen Rückhalt. Einen weiteren Einschnitt markierte die Debatte „What’s left?“, mit zwanzig Beiträgen, in denen überwiegend Anhänger der Linken ihre Lage nach dem Zusammenbruch des Kommunismus reflektieren durften. Eine Gegenreihe „What’s right?“ kam bezeichnenderweise nicht über ein paar Folgen hinaus und wurde von Schirrmacher sang- und klanglos abgebrochen. Das mochte auf Unmut im eigenen Haus zurückzuführen sein – der Kulturteil gehörte zu den schärfsten Gegnern der „Neuen Demokratischen Rechten“, einer Gruppe um die damaligen Welt-Redakteure Rainer Zitelmann, Ulrich Schacht und Heimo Schwilk –, hatte aber auch mit der Sorge Schirrmachers zu tun, den Zorn jener Großintellektuellen zu wecken, an deren Wertschätzung ihm lag. Habermas und Enzensberger sahen sich umworben, seine eigene enge Beziehung zu Marcel Reich-Ranicki, von dem er die Literaturseite übernommen hatte, pflegte er sorgsam.

Ein interessantes Schlaglicht auf diese Verbindung wirft auch, daß die in den neunziger Jahren lautgewordene Kritik an Reich-Ranicki und dessen Rolle im kommunistischen Terrorapparat Nachkriegspolens in der FAZ keinerlei Resonanz fand, während umgekehrt der Schriftsteller Martin Walser noch vor der Veröffentlichung seines Romans „Tod eines Kritikers“ durch den von Schirrmacher erhobenen Vorwurf des Antisemitismus zu einer Art Unperson des Literaturbetriebs wurde.

Die geschilderten Vorgänge machen hinreichend deutlich, daß die Einwände gegen Schirrmacher, wenn sie sich auf die Verlagerung der Arbeitsschwerpunkte eines Feuilletons konzentrierten – hin zu Nanotechnologie, Entschlüsselung des menschlichen Genoms, „Big data“ –, an der Sache vorbeigingen. Dem Kern näher kommt schon der Verweis auf den Unernst des „Showmasters“ (Konrad Adam), der dauernd eine Bühne für die große Inszenierung suchte. Der rhetorische Trommelwirbel, mit dem Schirrmacher das Wort ergriff, war ein Indiz für die Bedeutung dieses Faktors, aber auch die Plazierung der Bücher, die er in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat. Das „Methusalem-Komplott“ (2004), „Minimum“ (2006), „Payback“ (2009) und „Ego“ (2013) waren respekteinflößende Beispiele für Werbestrategie und Selbstvermarktung, und nicht trotz, sondern wegen des wiederaufgewärmten Antikapitalismus, der irrlichternden Kulturkritik, des Ausgriffs auf Disziplinen, von denen er nicht genug verstand, trugen sie dazu bei, Schirrmachers Ruf als Meisterdenker zu zementieren.

Die Gegner von einst schweigen oder weichen aus

Von Richtungslosigkeit war dabei keine Rede. Die Kernaussage der Bücher, die Art und Weise, in der Schirrmacher die Kampagne gegen Sarrazin instrumentierte, die Piratenpartei hochschreiben ließ, Nils Minkmar als Nachfolger von Bahners das Feuilleton auslieferte und schließlich unumwunden bekannte: „Ich beginne zu glauben, daß die Linke recht hat“ – das alles war deutlich genug. In seinen letzten Jahren hat Schirrmacher noch einen Coup gelandet, die Kaviarlinke neu erfunden und zeitgleich das entscheidende, von ihm selbst so oft beschworene Ziel erreicht: „Meinungsführerschaft“.

Was das in der Berliner Republik eigentlich heißt, mit ihrer Konsenssucht, ihrem demonstrativen Desinteresse an echter Auseinandersetzung und der politisch-korrekten Sprachregelung, steht aber dahin. Die von Schirrmacher eingeforderte „Fähigkeit zu bürgerlicher Gesellschaftskritik“ hat er selbst jedenfalls nicht gezeigt. Aber davon kein Wort im Augenblick seines Todes, die Gegner von einst schweigen oder weichen aus, bei den Kollegen schwingt echter Respekt mit, in bezug auf Begabung, Durchsetzungswillen, Geschick und Zielstrebigkeit. Im ersten Nachruf seiner Zeitung hieß es: „der sprach- und wirkmächtigste Kulturjournalist, den Deutschland je hatte“, und „ein sehr großer Geist“, im zweiten war sogar von „Genie“ die Rede.

Es bedarf keiner seherischen Gabe, um zu sagen, daß keines dieser Urteile Bestand haben wird. Es äußert sich in ihnen nur der Mangel an echten Maßstäben in unserem Land und unserer Zeit. Ein Mangel, für den auch Schirrmacher stand.

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