© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Der Mann hinter Darwin
Evolutionsbiologe Alfred Russel Wallace: ein vergessener Titan der Naturforschung
Christoph Keller

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts mißtrauten die wenigsten Christen dem biblischen Schöpfungsbericht. Demnach schuf Gott die Erde und das vielgestaltige Leben des Planeten. Auch Charles Darwin (1809–1882), als er in Cambridge Theologie studierte, glaubte an die „strikte Wahrheit jedes Wortes der Bibel“. Jede Tierart, von der Mücke bis zum Menschen, sei daher eine göttliche Kreation.

Bekanntlich war es Darwin, der, nachdem er von der Theologie zur Biologie umgesattelt hatte, die Entstehung der Arten auf natürliche Ursachen zurückführte und der mit seiner Evolutionstheorie das neuzeitliche Weltbild revolutionierte wie vor ihm nur der deutsche Astronom Nikolaus Kopernikus.

Als 1859 Darwins epochales Werk „On the Origins of Species by Means of Natural Selection“ erschien, gewann der Verfasser den Wettlauf zum Weltruhm eines „Kopernikus der Biologie“ jedoch nur denkbar knapp. Denn alle Elemente einer Theorie der Veränderlichkeit der Arten durch natürliche Selektion hatte Darwins Konkurrent Alfred Russel Wallace (1823–1913) gleichzeitig entdeckt.

Abenteuerliches Leben, bahnbrechende Forschungen

Für den Berliner Zoologen Mat­thias Glaubrecht, der sich seit langem mit dem abenteuerlichen Leben und den bahnbrechenden Forschungen des Briten beschäftigt, ist der „Zuspätgekommene“ Wallace kein erledigter Fall, sondern neben Alexander von Humboldt und Darwin der bedeutendste Naturforscher seines Zeitalters. Den Rang eines solchen Wissenschaftlers, mit einem Œuvre von 22 Büchern und 750 Aufsätzen, relativiere auch nicht das Mißgeschick der vom fixeren Darwin in den Schatten gestellten Präsentation seiner Ideen über dynamische Artenentwicklung. Grund genug also für Glaubrecht, ihn endlich unverdienter Vergessenheit zu entreißen.

Stoff bietet ihm dieser Lebensroman eines Mannes, der aus ärmlichem Milieu aufstieg in den viktorianischen Gelehrten-Olymp, in Überfülle. Der Schulabbrecher Wallace schlug sich zunächst als Landvermesser durch und bildete sich als käfersammelnder Autodidakt zum Naturforscher aus. Die erste große Expedition, zwischen 1848 und 1852 im Amazonasgebiet, verfolgte daher keine wissenschaftlichen, sondern ordinär kommerzielle Zwecke: Wallace war als Naturaliensammler unterwegs, der möglichst prächtige Schmetterlinge und Vogelbälge an ein Londoner Handelshaus lieferte, das rare exotische Schönheiten teuer an Museen und Privatsammler verkaufte. Ein sorgenfreies Dasein winkte, aber er vertraute das Gros seines Raritätenkabinetts einem Seelenverkäufer an, der im Atlantik versank. Eine Katastrophe, aus der er als Schiffbrüchiger nur sein nacktes Leben rettete.

Trotzdem zog es Wallace 1854 abermals in die Tropen. Reiseziel war der Malaiische Archipel, damals Niederländisch-Indien, heute Indonesien. Das abgelegene Inselreich zwischen Singapur und Neuguinea war noch wenig erforscht und lockte mit einer dem Amazonas ähnlichen Artenvielfalt. Wallace blieb, konzentrierte sich auf die Fauna von Borneo, Celebes und den Molukken, und wandelte sich in dieser Zeit voller Entbehrungen und Gefahren vollends vom Sammler zum Wissenschaftler.

Vordergründig sah es indes so aus, als würde er in alten Gleisen fortfahren. 110.000 Stück Insekten fing, präparierte, verschiffte und verkaufte Wallace bis 1862. Darunter 83.200 Käfer mit 7.000 Arten. 13.000 Schmetterlinge gingen ihm ins Netz. Unter 280 verschiedenen Ameisen fand er allein 200 neue Arten. Dazu kamen 8.050 Vogelbälge, 7.500 Muscheln und Schnecken, 400 Säuger und Reptilien. Beinahe alles, was er im Archipel erbeutete, war für die Wissenschaft neu, er öffnete ihr in dieser Region ein „Füllhorn von geradezu verschwenderischer Vielfalt“.

Es entwickelte sich das „erfolgreichste Ein-Mann-Unternehmen“ in den Annalen der Naturkunde. Das Wallace aber niemals von der Suche nach einer Antwort auf die „Artenfrage“ ablenkte. Welches Gesetz regelt die Erschaffung und Verbreitung von Arten? Die Bibel gab schon dem jungen Landvermesser keine zuverlässige Auskunft mehr. Als „Evolutionist“, als jemand, der das „Geheimnis aller Geheimnisse“ ausschließlich durch gründliches Studium sämtlicher Naturphänomene glaubte lüften zu können, betrat Wallace 1848 Brasilien. Auf Borneo und den Molukken stand für ihn fest, die Entstehungsgeschichte des Lebens lasse sich nur als Folge gradueller, kontinuierlicher Entwicklung erklären. Allein den Mechanismus dieses Artenwandels durchschaute er noch nicht.

Erste geologische Befunde über die untermeerischen Ausläufer der Festlandsockel im indo-australischen Archipel verwertend und sie in Beziehung zur Verteilung zahlloser Varietäten der insularen Fauna setzend, glaubte Wallace 1858 das „generelle Prinzip“ erfaßt zu haben: die „Umwelt“ reguliert den „Kampf ums Dasein“ und steuert den natürlichen Prozeß der Auslese.

Den Aufsatz mit dieser sensationellen Hypothese schickt Wallace ausgerechnet an Darwin, der fieberhaft am Manuskript von „On the Origins of Species“ arbeitete.

Fruchtbare Zusammenarbeit oder freches Plagiat?

Damit begann, wie die auflebende angelsächsische Wallace-Forschung meint, einer der „übelsten Betrugsfälle der Biologiegeschichte“. Näheres dazu sei hier nicht verraten, weil Glaubrechts kriminalistische Untersuchung, ob Darwin nur als Plagiator den Wettlauf mit Wallace gewann, das spannungsgeladene Glanzstück seiner faszinierenden Biographie abgibt.

Ein seltenes Lese- und Lernvergnügen, dieses Buch. Doch es klingt mit einem düsteren Epilog aus. „Wallace’ Welt“, klagt der Autor, sei in „unserer Generation“, seit 1980, weitgehend verschwunden, weil Indonesien Weltmeister im Abholzen sei. Bis 2022 würden die Tiefland-Regenwälder Borneos Geschichte sein. Parallel dazu zerstöre der „Feldzug gegen den Urwald“ eine der artenreichsten Regionen der Erde. „Nichts“, keine internationale Konferenz und kein Greenpeace-Aktivismus, konnte dieses „katastrophale Artensterben“ aufhalten. Auf Wallace’ Artenparadies dürften wir deshalb wie auf ein versunkenes Atlantis zurückschauen, das mit mythischen Wesen wie Orang-Utans, Tigern, Nashörnern, Paradiesvögeln und Flug-Fröschen bevölkert war.

Matthias Glaub­recht: Am Ende des Archipels. Al­fred Russel Wallace. Galiani Verlag, Berlin 2013, gebunden, 442 Seiten, Abbildungsteil, 24,99 Euro

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