© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Die Lunte entzündet
Die indische Armee ließ sich im Juni 1984 zu einem Massaker an den Sikhs im Punjab provozieren / Blutspur bis in die Gegenwart
Wolfgang Kaufmann

Vor dreißig Jahren stand Indien vor einer ernsthaften Zerreißprobe. Verantwortlich hierfür war der Separatismus extremistischer Sikhs im Punjab. Diese versuchten mit aller Gewalt, im Nordwesten Indiens einen theokratischen Staat namens Khalistan zu installieren. Als ihr Anführer fungierte Jarnail Singh Bhindranwale, der sich als der elfte und letzte Guru der Sikh-Religionsgemeinschaft gerierte und den man wegen seiner radikalen Rhetorik heutzutage ohne weiteres als Haßprediger bezeichnen würde.

Bhindranwale hatte sich bereits 1982 mit etwa 200 engen Gefolgsleuten im Harmandir-Sahib-komplex in Amritsar, auch Goldener Tempel genannt, verschanzt. Im Schutze dieses eigentlich total sakrosankten höchsten Heiligtums der Sikhs terrorisierten die Anhänger Bhindranwales Hindus und Moslems, aber auch Glaubensgenossen, die nicht auf ihrer ideologischen Linie lagen: So erschossen sie am 25. April 1983 den stellvertretenden Polizeichef des Jalandhar-Distrikts, Avtar Singh Atwal, im Anschluß an dessen Gebet im Heiligtum.

Insgesamt forderte das Sikh-Massaker 20.000 Tote

Trotzdem strebte eine einflußreiche Gruppierung innerhalb der Kongreßpartei um deren Generalsekretär Rajiv Gandhi eine Verhandlungslösung an. Diese scheiterte indes am herausfordernden Auftreten der Sikh-Separatisten. Deshalb entschloß sich die Premierministerin Indira Gandhi im April 1984 zur „chirurgischen“ Operation Sundown, deren Ziel darin bestehen sollte, Bhindranwale durch ein Sonderkommando auszuschalten. Allerdings blies sie das Unternehmen dann aus Angst vor Kollateralschäden wieder ab.

Unmittelbar darauf begannen die Besetzer damit, die Tempelanlage durch diverse Umbauten in eine Festung zu verwandeln, wobei sie Unterstützung vom Ex-Generalmajor und Kriegshelden Shabeg Singh bekamen, der 1976 wegen Korruption degradiert worden war. Zudem wies der „Elfte Guru“ Anfang Mai 1984 noch ein weiteres Gesprächsangebot zurück. Daraufhin befahl Indira Gandhi doch einen Militäreinsatz, nachdem Armeestabschef Arun Shridhar Vajdya versichert hatte, es werde weder Verluste noch Beschädigungen des Heiligtums geben.

Tatsächlich jedoch endete die nunmehrige Operation Blue Star, welche von Generalleutnant Krishnaswamy Sundarji und Generalmajor Kuldip Singh Brar geleitet wurde, in einem ausgesprochenen Blutbad. Nicht nur, daß die angreifende 9. Infanteriedivision, welche über keinerlei Erfahrungen im Häuserkampf verfügte, bei der Erstürmung des Goldenen Tempels zwischen dem 3. und 8. Juni 136 Mann verlor – ebenso kamen Bhindranwale und Shabeg Singh sowie alle ihre Gefolgsleute ums Leben. Darüber hinaus starben Hunderte von Zivilisten infolge der tagelangen Gefechte in Amritsar, in denen auf Armeeseite unter anderem 13 Panzer und Artillerie eingesetzt wurden. Noch schlimmer traf es die protestierenden Sikh-Massen in anderen Teilen des Punjab. Möglicherweise forderte das brutale Vorgehen des indischen Militärs in der komplett abgeriegelten Provinz bis zu 20.000 Tote. Die wenigen neutralen Augenzeugen vor Ort berichteten jedenfalls von zahlreichen systematischen Massakern an Unbewaffneten.

Den Sikh-Terrorismus konnte Indira Gandhi mit der ebenso unüberlegten wie brachialen Aktion natürlich nicht aus der Welt schaffen. Ganz im Gegenteil: Bis 1993 fielen pro Jahr um die tausend Menschen Racheakten von Bhindranwale-Anhängern zum Opfer. Und auch die Premierministerin bezahlte ihren Entschluß zur Stürmung des Tempels mit dem Leben. Am 31. Oktober 1984 streckten die zwei Sikh-Leibwächter Satwant Singh und Beant Singh Indira Gandhi mit 33 Schüssen nieder. Außerdem liquidierte die Khalistan Commando Force am 10. August 1986 den Hauptverantwortlichen für Blue Star: Ex-General-stabschef Vajdya. Glück hatte hingegen der Kommandeur der Truppen, welche letztendlich in das Heiligtum eindrangen und sämtliche Besetzer niedermachten – darunter auch die, die sich ergeben wollten: Brar überlebte mehrere Anschläge, steht aber weiterhin auf der Sikh-Todesliste, wovon das erneute Attentat vom 30. September 2012 in London zeugt, das wiederum scheiterte.

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