© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Großdenker im Landser-Milieu
Als es noch eine Republik des Geistes gab: Martin Heidegger und Rudolf Augsteins „Spiegel“-Getreue
Florian Kieback

Ein erster Satz wie aus dem Drehbuch zu „Mord im Orient-Express“: „Am Abend des 22. September 1966 nimmt eine kleine Reisegruppe den Nachtzug von Hamburg nach Freiburg im Breisgau.“ Spannung wird erzeugt, Fragen ziehen den Leser in den Text hinein: Wer gehörte zur Reisegruppe, was wollte sie in Freiburg?

Lutz Hachmeister, Medienforscher und Dokumentarfilmer, hält die Spannung noch ein paar Absätze aufrecht, indem er die Nennung von Namen vermeidet. Die Rede ist stattdessen vom einflußreichsten deutschen Journalisten und seinem Ressortleiter „Geisteswissenschaften“, die ein Stenograph und eine Fotografin begleiten, und die einen Philosophen treffen wollen, der vor und nach 1933 den „Führer“ verehrt und „große Hoffnungen“ in die NS-Bewegung gesetzt habe. Damit lichten sich die Nebel, zumindest die, die Rudolf Augstein und Martin Heidegger umgaben, obwohl man noch lange nicht weiß, warum der Chef eines Nachrichtenmagazins höchstpersönlich ein Interview mit einem scheinbar allen Tagesaktualitäten entrückten Gelehrten führen will.

Mit Georg Wolff, dem Ressortleiter, gibt Hachmeister zudem neue Rätsel auf, weil er nur verrät, Augsteins Adlatus habe bis 1945 zur deutschen Besatzung in Norwegen gehört, als Hauptsturmführer im Sicherheitsdienst (SD) der SS. Wie kommt eine SD-Charge in eine Spitzenposition beim linksliberalen Spiegel? Es ist diese Frage seines Buches mit dem Untertitel „Der Philosoph, der Spiegel und die SS“, der sich Hachmeister zunächst zuwendet. Erst 200 Seiten weiter behandelt er, auf nur 50 Seiten, das legendäre Spiegel-Gespräch, das Heidegger mit der Auflage gewährte, es dürfe erst nach seinem Tod erscheinen. Offenkundig stimmen hier die Proportionen nicht, da die dominierende Untersuchung zur Frühgeschichte des Spiegel, mitsamt dem Einzug ehemaliger SS-Sturmführer in die Redaktion dieses „Sturmgeschützes der Demokratie“ (Augstein), bereits ein Thema für eine dicke Monographie wäre, die Hachmeister vielleicht schon in petto hat.

Ein anderes ist die „aus den Quellen fein gearbeitete, historiographisch zureichende politische Heidegger-Biographie“, deren Fehlen er zu recht beklagt. Diese kann zwar seine Analyse des Interviews, das um das „Geschick“ des Denkers im Dritten Reich wie um seine private „Vergangenheitsbewältigung“ kreist, sowenig ersetzen wie die Rückblenden auf Heideggers Herkunft und Karriere vor 1933, die Grabenkriege der Rektoratszeit 1933/34 oder die Exkurse zur medienpolitischen Aktualität seiner Technikphilosophie.

Vermittlung kollektiver Nachkriegsbefindlichkeiten

Um die Etablierung der SD-Kader beim Spiegel zu erklären, versucht Hachmeister ein Gruppenporträt der Gründer-Mannschaft um den strategischen Kopf Augstein und den „Zuchtmeister“ Hans Detlev Becker mit seinem strengen „preußischen Redaktionsregime“. Die Befindlichkeit dieser Truppe kennzeichne am besten der Begriff „Landser“, der das Selbstverständnis von einstigen Wehrmachtsoffizieren, Flakhelfern und HJ-Führern ausdrückt, die jenseits von links und rechts an publizistischen Fronten kämpften. Aufnahme fand, wer die „rustikale“ Eingangsprüfung des „bekennenden Zynikers“ Augstein bestand: „Haben Sie Juden erschossen?“ Nur Horst Mahnke, der erste SD-Offizier, der dann Wolff und andere nachzog, dürfte bei der Antwort gelogen haben, da seine Beteiligung an der Tötung von zwanzig jüdischen Intellektuellen in Smolensk durch das SD-„Vorkommando Moskau“ wahrscheinlich sei.

Da die Redaktion um 1950 noch weit davon entfernt war, den „linksliberalen Mainstream“ zu repräsentieren, neigte auch niemand zu moralischem Rigorismus selbst gegenüber den dunkleren Seite des NS-Regimes, seiner Täter und Mitläufer. Die SD-Gruppe entsprach daher nicht nur der „Landser“-Mentalität der Magazin-Macher, sie trug mit ihren alten Beziehungen und ihrer Nähe zum Geheimdienstmilieu entscheidend dazu bei, das Profil der „publizistischen ‘Gestapo unserer Tage’“ (Franz Josef Strauß) in den fünfziger Jahren zu formen. Dank ihrer Kontakte zur „Organisation Gehlen“ lasse sich bei vielen Artikeln der frühen Jahre nicht mehr zwischen Geheimdienstdossier und investigativem Journalismus unterscheiden. Auch das bis heute nicht vernachlässigte „Kerngeschäft“ des Blattes, „vergangenheitspolitische Abrechnungen ad personam“, verdanke den SD-Netzwerkern viel.

Unter ihnen schätzte Augstein Georg Wolff (1914–1996), den eigentlichen Konzeptionisten des Heidegger-Interviews, als den „gedankenreichsten Schreiber“ in seiner Redaktion. Ein Lob, das auch den durchweg zart hämischen, den typischen Spiegel-Stil imitierenden Hachmeister beeindruckt. Denn das Kapitel zur Biographie des manischen Lesers und Autodidakten von „hoher Allgemeinbildung“, basierend auf Wolffs unveröffentlichten Memoiren, ist zweifelsohne das sogar von Empathie umspielte Glanzstück seines Versuchs, das geistige Klima in der jungen Bundesrepublik zu vergegenwärtigen. Nicht bei Heidegger, sondern bei dem mit „Schuld“ und „Verstrickung“ hadernden, von der „Frankfurter Schule“ angezogenen Wolff gelingt Hachmeister zugleich die Vermittlung kollektiver deutscher Nachkriegsbefindlichkeiten in ihrer kaum zu überschauenden Vielschichtigkeit und jener sagenhaft entrückten Aufbruchstimmung in einer – und das ist ja wohl die Hauptsache – intellektuell bunten Republik. Diesem „produktivsten Spiegel-Redakteur“ 1996 ostentativ keinen Nachruf gewidmet zu haben, beleuchtet darum blitzartig die geistige Verarmung und den Verlust an pluralistischer Vielfalt nicht nur in der „Pressestadt“ Hamburg.

Im Vergleich mit der differenzierten Wolff-Studie mutet die Auseinandersetzung mit dem „spitzbübischen Oberschlumpf“ in Todtnauberg plump an. Heidegger kreidet der Autor wenig originell an, Wolff und Augstein 1966 mit seiner Vertuschungsstrategie aus dem Entnazifizierungsverfahren genarrt zu haben. Das offenbart dann doch wieder einen hastigen Rückgriff auf jene plumpe, Komplexität radikal reduzierende Denunziationsliteratur im „Fall Heidegger“, die selbst nach Hachmeisters Geschmack „an historiographischer Substanz zu wünschen übrigläßt“.

Leider verfährt Hachmeister auch in den beiden Schlußkapiteln zur Nachwirkung des Interviews und zur Rezeptionsgeschichte seit 1976 nach dieser schematischen Methode. Das endet dann auf Wikipedia-Niveau mit der Konstruktion „nationalkonservativer Kontinuitäten“, in der der Philosoph, vermittelt durch Sohn Hermann Heidegger, der nebenbei zum Gründervater der JUNGEN FREIHEIT avanciert, als Ideengeber der bundesdeutschen „Neuen Rechten“ erscheint. Aber wer Karl Jaspers ein Werk „Sein und Existenz“ statt „Vernunft und Existenz“ (1935) unterjubelt, den JF-Autor Herbert Ammon in Herfried Amon umtauft oder das SD-Ausbildungslager von Pretzsch an der Elbe ins holsteinische Preetz verlegt, kommt eben auch bei größeren Herausforderungen als der Faktenrecherche gern einmal aus dem Tritt.

Lutz Hachmeister: Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel und die SS. Propyläen Verlag, Berlin 2014, gebunden, 368 Seiten, Abbildungen, 22,99 Euro

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