© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

„Das war Freiheit!“
Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 fand nicht nur in Berlin, sondern in der ganzen DDR statt. Klaus Grünert erlebte in Leipzig den Kampf gegen die SED-Diktatur und für ein geeintes Deutschland.
Moritz Schwarz

Herr Grünert, ist der 17. Juni 1953 Vergangenheit?

Grünert: Nein, ganz und gar nicht! Für mich ist er höchst lebendig.

Für Sie – weil Sie Teilnehmer des Aufstandes waren.

Grünert: Na, hören Sie mal, das, worum es am 17. Juni 1953 ging, ist heute genauso aktuell wie damals!

Damals ging es um eine versteckte Lohnkürzung, die die Bauarbeiter der Ostberliner Stalinallee nicht hinnehmen wollten und deshalb in den Ausstand traten.

Grünert: Das war der Funke – aber die Pulverfässer, das waren die miserable Versorgungslage, die Bevormundung durch Partei und Besatzungsmacht und die Spaltung Deutschlands.

All das haben wir heute nicht mehr. Was meinen Sie also damit, der 17. Juni sei heute so aktuell wie damals?

Grünert: Von wegen! Den 17. Juni als vergangen abzutun, das könnte vielen so passen. Etwa jenen, die in der DDR mitgemacht haben und heute wieder in Amt und Würden sind – wie etwa eine gewisse ehemalige FDJ-Sekretärin. Ebenso allen, die Deutschland am liebsten abschaffen würden und die die Erinnerung an einen Volksaufstand für Deutschlands Einheit natürlich stört. Und jene, die am liebsten ihr politisches Süppchen ohne das Volk kochen, etwa in der Einwanderungs- oder der EU-Politik, wo wir nicht gefragt werden und wo es die Verantwortlichen schrecken muß, zu sehen, wie es war, als die Bürger auf die Straße gingen.

Wie war es denn?

Grünert: Das war Freiheit, Hoffnung! Das war – bis zum Herbst 1989 – das Großartigste, was ich erlebt habe!

Allerdings waren Sie nicht in Berlin dabei, wo der Aufstand entschieden wurde.

Grünert: Irrtum, der 17. Juni fand quer durch die ganze DDR statt. Und er war bei uns in Leipzig nicht weniger dramatisch als in Berlin.

Für Sie begann er früh morgens um acht.

Grünert: Wir wohnten in der Innenstadt und hörten durchs Fenster plötzlich merkwürdige Geräusche. Ich blickte hinaus und sah Menschen zum Augustusplatz strömen – dem zentralen Platz in Leipzig mit Oper und Gewandhaus. Kein Demonstrationszug, sondern größere Gruppen und Grüppchen, in heftige Diskussionen verstrickt. Vom Augustusplatz kamen Sprechchöre, ich entschied mich aber, zum Marktplatz zu gehen, denn von dort kam Rauch.

Demonstranten hatten einen Werbepavillon des DDR-Gewerkschaftsbundes in Brand gesteckt – heute das berühmteste 17. Juni-Foto aus Leipzig.

Grünert: Jetzt stellen Sie sich sicher wilde Szenen auf dem Marktplatz vor. Aber so war der 17. Juni nicht. Ja, Demonstranten hatten den Pavillon angezündet und auch etwa das Ernst-Thälmann-Haus, die Leipziger SED-Parteizentrale. Dennoch herrschte nicht wilde Aufregung, sondern eher angespannte Ruhe. Verstehen Sie, es brodelte, aber es war kein Tohuwabohu. Die Leute diskutierten, was nun zu geschehen habe.

Das ist tatsächlich nicht so, wie man sich einen Aufstand vorstellt.

Grünert: Sogar ganz das Gegenteil, die Stimmung war eher ratlos. Alle meinten, irgendwas müsse passieren, aber keiner schien zu wissen, was. Immer wieder hörte man einzelne rufen: „Ja, gibt es denn keinen, der die Führung übernimmt? Keinen, der weiß, was zu tun ist?“

Wie war denn der Aufstand überhaupt ausgebrochen, wenn ihn keiner anführte?

Grünert: Sie verstehen nicht: Am 17. Juni 1953 kochte sozusagen die Volksseele über. Nachdem es schon tagelang gebrodelt hatte, kam es dann zu einem spontanen Ausbruch. Den Leuten ging es wie mir selbst: Mein Vater war ein ehrlicher Mann, und deshalb hatte er auf die Frage, ob er vor 1945 politisch aktiv war, wahrheitsgemäß angegeben, er sei Mitglied der damaligen Staatspartei gewesen. Die Quittung war, daß ich keinen Ausbildungsplatz bekam. Diese Willkür zum Beispiel machte wütend. Schließlich beschlossen einige, zur Leipziger FDJ-Zentrale zu ziehen.

Warum?

Grünert: Ich weiß nicht, ich war 15 und lief mit. Mir allerdings leuchtete das ein, ich bekam keinen Ausbildungsplatz und dort saßen jene Jugendlichen, die alle Privilegien genossen! Doch als wir ankamen, war das Gebäude verlassen. Die hatten sich aus dem Staub gemacht. Wir machten unserer Wut Luft und warfen Akten und Inventar aus dem Fenster, bejubelt von der Menge unten.

Hatten Sie keine Angst vor Konsequenzen?

Grünert: Angst hatte man eigentlich nur vor den Russen, die DDR-Polizei nahm man nicht so ernst.

Wieso das?

Grünert: Jedermann wußte, daß sie ihre Macht nur geliehen hatten. Als vor der FDJ-Zentrale ein Mannschaftswagen der Volkspolizei vorfuhr, wurde er von den Demonstranten kurzerhand mitsamt dem Inhalt umgekippt.

Dem „Inhalt“?

Grünert: Den Polizisten.

Was geschah ihnen?

Grünert: Die wurden etwas durcheinandergewirbelt, berappelten sich und gingen stiften.

Keinem passierte etwas?

Grünert: Keinem. Aber sie begriffen, sie hatten hier nichts mehr zu melden.

Ganz anders, als die Russen auftauchten.

Grünert: Ja, obwohl es ein paar Übereifrige gab, die sich auch mit ihnen anlegen wollten. Auf einmal flog die Tür auf, zwei russische Offiziere traten ein. Sie befahlen uns streng, aber ruhig, sofort mit der Entsorgung des FDJ-Mobiliars aufzuhören. Da schlugen einige tatsächlich vor, die beiden auch aus dem Fenster zu werfen, was aber ein anderer Demonstrant und ich verhinderten, weil uns klar war, was es bedeuten würde, sich mit den Russen anzulegen.

Hatten die beiden denn keine Waffen?

Grünert: Doch, aber sie hatten sie nicht gezogen. Daran sehen Sie, wie groß das Vertrauen in Furcht und Respekt war, die die Besatzungsmacht verbreitete. Sie traten alleine einer Horde Aufständischer gegenüber und hielten es nicht einmal für nötig, ihre Pistolen zu ziehen, sondern glaubten, lediglich ein Machtwort sprechen zu müssen.

So war es dann aber doch nicht?

Grünert: Nicht ganz, wie gesagt. Und so zogen die beiden schließlich doch ihre Pistolen. Da traute sich natürlich keiner mehr zu mucken.

Trotzdem konnten Sie entkommen?

Grünert: Die Menge vor dem Haus schrie: „Laßt sie frei!“ Als Zugeständnis ließen die zwei Russen den Ältesten und den Jüngsten – das war ich – gehen. Oder war es, weil wir beide uns dafür eingesetzt hatten, sie nicht aus dem Fenster zu werfen? Jedenfalls kam ich frei und bin so wohl Sibirien entkommen.

Die anderen wurden verschleppt?

Grünert: Ich weiß nicht, was mit ihnen passiert ist, aber ich weiß, daß später alle Beteiligten des 17. Juni, derer man habhaft wurde, schwer bestraft wurden. Ich bin dem entgangen, weil ich unerkannt wieder in die Menge eintauchen konnte. Hätte man meine Identität festgestellt, wäre ich später ganz sicher fällig gewesen.

Sie machten sich einfach aus dem Staub?

Grünert: Was heißt aus dem Staub machen? Ich war durch glückliche Umstände entkommen, und ich wußte nicht, wie ich mich als 15jähriger mit zwei bewaffneten russischen Offizieren, respektive der gepanzerten russischen Besatzungsmacht, hätte anlegen können. Aber falls Sie meinen, daß ich aufgegeben hätte. Nein, wir erkannten zwar, daß wir hier wegen der Russen nichts mehr ausrichten konnten, aber wir beschlossen, weiter zur Polizeistation am alten Reichsgericht zu ziehen. Ziel war, politische Gefangene aus der Untersuchungshaft zu befreien.

Dort wurde aber das Feuer auf Sie eröffnet.

Grünert: Die Polizisten hatten sich verbarrikadiert und als wir vorrückten, begannen sie zu schießen. Es war ein Riesenschreck, und ich sah Leute getroffen zu Boden gehen. Alles stürmte zurück und an mir vorbei wurden blutende Opfer geschleppt. Ich kann nicht sagen, ob sie nur verwundet oder tot waren. Das war der Moment, wo wir erstmals einsahen: Es geht nicht mehr weiter.

Damit war der Aufstand zu Ende?

Grünert: Ich sage Ihnen ehrlich, ich beschloß, nach Hause zu gehen, ich war 15 und hatte Angst. Es war klar, ab jetzt würde gekämpft werden müssen, und wir hatten keine Waffen und wollten auch nicht sterben. Und ich sage Ihnen außerdem, es war die richtige Entscheidung, denn auf dem Nachhauseweg hörte ich plötzlich dieses infernalische Dröhnen und Rasseln. Panzer! Vom Hauptbahnhof auf der einen Seite, auf der anderen vom ehemaligen Reichsgericht – heute das Bundesverwaltungsgericht – kamen sie den Leipziger Ring herauf. Trotz weiterer kleiner Unruhen bis zum 24. Juni war klar, daß es nun endgültig vorbei war, denn gegen die Rote Armee hatten wir keine Chance.

In Berlin haben sich die Demonstranten nicht gefürchtet, den Sowjetpanzern mit Pflastersteinen entgegenzutreten.

Grünert: So etwas gab es in Leipzig nicht. Ich weiß nicht, warum, vielleicht sind die Sachsen zu besonnene Leute – und man weiß ja heute, daß die Attacken in Berlin auch zu nichts geführt haben.

Das war es also für Sie?

Grünert: Ganz und gar nicht. Natürlich bin ich erst mal nach Hause und habe abgewartet und war gottfroh, daß ich in den folgenden Tagen nicht verhaftet wurde, aber ich habe für den Rest meines Lebens die Konsequenz gezogen, wo immer möglich legale Opposition auszuüben, was mir viele Nachteile brachte, aber ich habe immer an das Ende der SED-Diktatur geglaubt.

Was bitte soll man unter „legaler Opposition“ in der DDR verstehen?

Grünert: Natürlich konnte man nicht offen opponieren, aber man konnte Freiräume nutzen, Eingaben machen. Sich, wie ich, in Friedenskreisen organisieren.

Warum?

Grünert: Weil ich an jenem Tag in Leipzig erkannte: Größter Fehler des 17. Juni war, nicht auf den Aufstand vorbereitet gewesen zu sein. Das war neben den Russen der Hauptgrund für sein Scheitern.

Sie wollen sagen, Sie haben einen Plan für einen neuen Aufstand entworfen?

Grünert: Nein, wir haben uns im kleinen lokalen Maßstab um Umwelt- und Bürgerrechtsfragen gekümmert. Das war ab den siebziger Jahren unter dem Dach der Kirche möglich. Natürlich war die Partei darüber oft stinkig und hat uns das auch spüren lassen. Ich wurde mehrfach von der Stasi verhört und wegen einer mißliebigen Eingabe auch vom Meisterlehrgang abgelöst. Aber unsere Friedenskreise waren schließlich das Auffangbecken, als im Herbst 1989 – wie damals am 17. Juni – der Unmut immer größer wurde und immer mehr Bürger auf die Straßen gingen. Anders als damals gab es nun Anführer, die den Protest organisierten, wie etwa die Leute der Oppositionsgruppe Neues Forum, so wie Christian Führer, der Pfarrer der Nikolaikirche, ein ganz wichtiger und verdienstvoller Mann! Und ich war von Anfang an bei jeder Montagsdemonstration in Leipzig mit dabei. Schließlich erzitterte die Nikolaikirche, wenn wir „Wir sind das Volk!“ riefen, so viele waren wir mittlerweile geworden.

Und dann fiel die Mauer.

Grünert: Mein Gott, waren wir glücklich! Es war ganz unglaublich! Und ich dachte: Jetzt wird alles gut!

Wurde es aber nicht?

Grünert: Nein. Heute muß ich sagen, es war ein Fehler, sich auf die Runden Tische einzulassen, denn dort wurden die Erfolge zerredet und ermöglicht, daß die SED und ihre Helfershelfer sich schließlich wieder etablieren konnten. Immerhin gab es in der ersten Zeit noch echte Meinungsfreiheit, aber heute? Heute ist das Klima schon wieder fast so stickig wie in der DDR, nur unter anderen Vorzeichen. Ich habe davon geträumt, als freier Bürger in einem freien Land und als Deutscher in einem deutschen Deutschland zu leben. Heute aber sehe ich die Leute so umerzogen wie vor der Wende, nur merken sie es nicht. Aber wissen Sie, mein Wahlspruch war immer: Auch wenn ich nicht weiß, ob es besser wird, werde ich versuchen, die Dinge zu ändern! Das gilt für mich auch heute.

 

Klaus Grünert, wurde 1938 in Leipzig geboren (das Bild rechts zeigt ihn mit 16 Jahren). Als Sohn eines Verwaltungsbeamten und ehemaligen NSDAP-Mitgliedes blieb ihm in der DDR die Wunschkarriere als Spielzeugmacher oder Porzellanmaler aus politischen Gründen verwehrt. Nach seiner Teilnahme am Volksaufstand vom 17. Juni 1953, wobei er unerkannt blieb, lernte er Forstfacharbeiter, später wurde er Elektroschweißer, und er engagierte sich in oppositionellen Kreisen. 1981 verunglückte sein Sohn unter bis heute ungeklärten Umständen bei der Nationalen Volksarmee tödlich. Nach der Wende 1989 war Grünert ein Jahr Mitglied der SPD, bevor er sich enttäuscht von der Partei abwandte. Er engagierte sich als Parteiloser im Gemeinderat seiner Heimatgemeinde Söllichau in Sachsen-Anhalt. Jedes Jahr zum 17. Juni hißt er zum Gedenken an die Niederschlagung des Volksaufstands eine Deutschlandflagge mit Trauerflor vor seinem Haus.

Fotos: Vor dem ehemaligen Reichsgericht rücken am Mittag des 17. Juni Sowjetpanzer auf dem Leipziger Ring vor: „Nun war klar, es war vorbei“; Demonstranten am Morgen des 17. Juni 1953 vor dem Alten Rathaus am Leipziger Marktplatz, rechts geht ein Werbepavillon des FDGB in Flammen auf: „Großartigste Gefühl meines Lebens“

 

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