© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

Den deutschen Ruf vollständig ruiniert
Nach der Landung der Alliierten in der Normandie zerstörten SS-Einheiten die französische Ortschaft Oradour-sur-Glane und ermordeten Hunderte Einwohner / Eine detaillierte historische Aufarbeitung steht bis heute noch aus
Stefan Scheil

Von Anfang an war die Erbitterung groß. Ahnungsvoll und sogar ein wenig prophetisch schrieb der zuständige Offizier des Verbindungsstabs der Wehrmacht in Limoges am 16. Juni 1944 in seinem Bericht: Der Name Oradour drohe auf ewig mit dem deutschen Namen verbunden zu sein, so wie der Mord bei Katyn mit dem russischen. Diesen Zusammenhang mit der Sowjetunion hatte auch der französische Regierungspräfekt der Region hergestellt, der einige Tage vorher mit erbitterten Klagen über das Verhalten der Waffen-SS in Oradour-sur-Glane bei der Wehrmacht vorgesprochen hatte: „Wir sind doch keine Russen!“ zitierte ihn der Bericht an den Hauptverbindungsstab in Clermont-Ferrand.

Was eigentlich passiert war oder gar, warum, das ließ sich im Juni 1944 nicht feststellen. Das SS-Panzergrenadier-Regiment 4 „Der Führer“ hatte im Tagesbericht für den 10. Juni lapidar gemeldet, man sei um 13.30 Uhr auf Oradour angetreten: „Nach Durchsuchung des Ortes wurde dieser niedergebrannt. Fast in jedem Haus war Munition gelagert.“ Gemeldet wurden auch 546 Feindtote und zwei eigene Verletzte. Von Kämpfen oder eigenen Toten war nicht die Rede.

Unter dem Eindruck dieser Meldung und der ebenso wütenden wie entsetzten französischen Reaktion in allen politischen Lagern forderten die deutschen Stellen eine sofortige Untersuchung und auch die harte Bestrafung der gegebenenfalls festgestellten Verantwortlichen. Der deutsche Ruf sei vollständig ruiniert und könne nur so vielleicht wiederhergestellt werden. Aber der hektische Kriegsverlauf, in dem der Großteil der SS-Division wenige Wochen später in den Kämpfen gegen die alliierte Invasion in der Normandie unterging, ließ dies nicht zu.

Es lagen sofort sehr verschiedene Schilderungen der Vorgänge vor, offenbar sowohl von französischer wie von deutscher Seite. Gelegentlich war von Haus-zu-Haus-Kämpfen im Ort die Rede, dann andererseits wieder von unprovoziertem deutschen Vorgehen. Angesichts der unklaren Lage entschied man sich im deutschen Hauptquartier dafür, die Variante zu verbreiten, daß der Ort ein Zentrum der irregulären französischen Partisanenbewegung Maquis und der ganze Vorgang ein Unglück gewesen sei. Die Zensurstelle des deutschen Militärs setzte 500 zivile Verbindungsmänner auf die mündliche Übermittlung dieser Darstellung an. Der Großteil der Opfer sei auf die versehentliche Explosion eines getarnten Munitionslagers in der Kirche des Orts zurückzuführen, in der die Frauen und Kinder des Orts eigentlich zu ihrem Schutz untergebracht worden waren. Schuld seien die Terroristen, die vorher Munition in der Kirche gelagert hätten.

Die Akten wurden für hundert Jahre weggesperrt

Sonderlich viel versprach man sich von diesem Vorgehen allerdings nicht. Der Leiter der Militärzensurstelle brachte am 20. Juni zum Ausdruck, seine bisherige Tätigkeit sei durch diese Vorgänge in Oradour vernichtet worden. Jeder weiteren deutschfreundlichen Propaganda sei der Boden entzogen. Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Parti Populaire Français vor Ort. Auch die von Jacques Doriot geführten französischen Faschisten gaben unter der Erschütterung durch die Ereignisse demnach ihr Engagement vorläufig auf.

Dessen ungeachtet blieben Fragen, und viel klarer wurde das Bild in den Folgejahren auch nicht. Der in den frühen fünfziger Jahren schließlich nachfolgende Prozeß hatte dann schon auf den ersten Blick die üblichen Eigentümlichkeiten und Ungereimtheiten alliierter Nachkriegsprozesse. Angeklagt wurden keine Offiziere, sondern nur einige Unteroffiziere und Mannschaften. Die wurden zwar verurteilt, aber bald darauf wieder entlassen. Die Ermittlungsakten wurden für 100 Jahre weggesperrt und Oradour-sur-Glane wurde ein prominenter Teil der französischen Gedenkkultur. Im Ort selbst hielt man nichts davon und veranstaltete immer eigene Gedenkveranstaltungen, abseits des offiziellen Umtriebs.

Diese hundertjährige Sperrung ist nicht völlig ungewöhnlich. Auch die Akten über die Region Vercors sind beispielsweise für diese Frist gesperrt worden, wobei es weitere Ähnlichkeiten gibt. Dort hatten sich auf einem unzugänglichen Hochplateau in der Nähe von Grenoble im Sommer 1944 gleich viertausend Résistance-Kämpfer verschanzt. Durch eine große Operation, bei der auch die wahrscheinlich letzte deutsche Luftlandung des Krieges stattfand, wurde das Plateau Ende Juli eingenommen. Der deutsche Militärhistoriker Peter Lieb konnte die Akten trotz Sperrung einsehen. Er meinte, dort ebenfalls Verbrechen ermittelt zu haben, die im Rahmen der Kämpfe stattgefunden haben sollen. Lieb zitierte aber auch einen französischen Bericht zur Erfassung von Kriegsverbrechen aus dem Jahr 1945, dem zufolge sich die deutschen Soldaten ausgesprochen human verhalten hätten. Überhaupt sind die teilweise umfangreichen Kämpfe, die deutsche Truppen im Spätsommer 1944 gegen reguläre und irreguläre Einheiten des Gegners führen mußten, erst in den letzten zehn Jahren zum Forschungsthema geworden.

Oradour ist somit weiter ein Fall für die Geschichtswissenschaft. Daß der genaue Hergang durch die Öffnung der noch verschlossenen Akten tatsächlich aufgeklärt werden könnte, ist allerdings kaum zu erwarten. Man kann sich den genaueren Hintergründen bis heute jedenfalls nur aufgrund der vorhandenen Angaben annähern. Ein anlaßloses Verbrechen wird es demnach nicht gewesen sein. Generell wäre es ohne die flächendeckenden Tötungen französischer Zivilisten und deutscher Soldaten durch den Résistance-Untergrund in den Vormonaten undenkbar gewesen. Seit dem Frühjahr 1944 und erst recht nach Beginn der alliierten Invasion wurden in Frankreich Tausende Personen durch Résistance-Mitglieder ermordet. Die genaue Zahl ist unbekannt. Es konnte jeden treffen, der irgendwie im Verdacht der „Kollaboration“ stand. Etwa ein Drittel der Opfer waren Frauen, die Tatmotive keineswegs immer politischer Natur.

Oradour wurde auch politisch instrumentalisiert

Auch deutsches Militär wurde oft angegriffen. Allein der unter anderem für Oradour zuständige Wehrmachtsstab in Clemont-Ferrand meldete in den ersten drei Juniwochen des Jahres 1944 insgesamt 105 tote und 141 vermißte Soldaten, wobei von den Vermißten in der Regel dauerhaft jede Spur fehlte. Der französische Untergrund fühlte sich ermächtigt, aus der Deckung heraus nach eigenem Gutdünken über Leben und Tod zu entscheiden. Am Tag vor Oradour hatte die Ermordung eines Teils der deutschen Sicherungskräfte in der nicht weit entfernten Stadt Tulle bereits eine aufsehenerregende deutsche Vergeltungsaktion mit knapp Hinrichtungen aktiver Résistance-Kämpfer aber auch ziviler Geiseln nach sich gezogen.

Vieles spricht demnach dafür, daß dem 10. Juni 1944 ein weiteres Attentat auf ein oder mehrere Mitglieder der Division vorausgegangen ist. Daß die Situation in Oradour dann außer Kontrolle geriet, steht fest. Auch der SS-Obersturmbannführer Otto Weidinger, der sich später stark für die Tragödienversion mit dem versteckten Sprengstoff in der Kirche einsetzte, hatte ursprünglich von einem „menschlich gesehen unverständlichen und nicht zu entschuldigenden“ Befehl des Bataillonskommandeurs Adolf Diekmann als Auslöser gesprochen. In den folgenden Tagen wurden jedoch weitere Orte umstellt und durchsucht. Es ereigneten sich keine ähnlichen Vorfälle, was ebenfalls für eine Sondersituation in Oradour spricht.

Oradour ist aber auch ein Politikum, das von Anfang an dem Auf und Ab gedenkpolitischer Mode unterlag. Im März 1945 wurde es zunächst einmal durch Charles de Gaulle bei einem Besuch im Ort zum offiziellen französischen „Märtyrerdorf“ erklärt. Diese säkular-religiöse Verklärung warf weitere Fragen auf. Als Märtyrer bezeichnet man in der Regel nicht zufällig und unschuldig hingemordete Zivilisten, sondern Menschen, die ihr Leben bewußt für eine höhere Sache geopfert haben. Wenn de Gaulle dies damit sagen wollte, dann stellte er die Darstellung eines grundlosen Verbrechens selbst in Frage. Nach ein paar Jahren und erst recht nach den Merkwürdigkeiten um den späteren Prozeß war man dieser Vereinnahmung in Oradour schließlich einigermaßen überdrüssig. Daß die französische Nationalversammlung schließlich ein Gesetz erließ, um die tatbeteiligten Elsässer in der Waffen-SS zu amnestieren, machte die Sache eher noch komplizierter.

Wer sich an den Stand deutsch-französischer Aussöhnung erinnert, der allen Nationalverklärungen zum Trotz zum Beispiel in den frühen 1980er Jahren erreicht worden war, kann sich über die anklagende Leidenschaft nur wundern, mit der Bundespräsident Joachim Gauck bald nach seinem Amtsantritt im September 2013 den Fall aufgegriffen und in die Tagespolitik gehoben hat. Dabei verfestigt sich der Eindruck, daß eine Gedenkpolitik, die ständig offiziell Gräben zuschütten will, darauf angewiesen ist, diese Gräben zwischenzeitlich immer wieder neu auszuheben. Ohne die Zugabe einer selbst als gerecht empfundenen Erbitterung kommt die ewige europäische Nachkriegsgesellschaft aber wohl nicht aus.

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