© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

Angela allein zu Haus
Die Briten waren schon immer europaskeptisch. Nun dreht sich auch in Frankreich der Wind in Sachen EU
Jürgen Liminski

Sogar bei der Sozialistischen Partei ist klar: „Die Verteufelung des Front National ist krachend gescheitert“, so ihr Generalsekretär. Und Frankreichs Staatspräsident Hollande räumte ein, die Wähler hätten dieses Europa bestrafen wollen. Der hohe Zuspruch für die Rechte gerade in den zwei großen Nationalstaaten Frankreich und Großbritannien zeige, daß es um „Fragen der Identität“ gehe, die in diesen beiden Nationen besonders intensiv diskutiert würden. Für die kleineren Staaten biete Europa eine „Öffnung, eine Erweiterung, einen Schutz“, meinte der französische Staatspräsident, „aber in Frankreich und Großbritannien stelle man sich andere Fragen: Was ist eine große Nation heute, können wir noch unser eigenes Schicksal bestimmen, haben wir noch eines?“

Auf diese am Rande einer Pressekonferenz in Brüssel, also abseits des offiziellen Ablaufs – die Symbolik ist kaum zu übertreffen – nachdenklich gestellten Fragen erwarten viele Millionen Franzosen eine Antwort, und sie erwarten sie nicht mehr von Hollande, sondern von Marine Le Pen und ihrer Partei. Das ist kein Randphänomen. Auch kein Protest gegen eine Regelungswut, die nur symptomatisch ist für die Wucherungen des europäischen Leviathan. Es sind ehrliche Fragen, die man auch nicht nur mit Ausgrenzung und Negativformeln beantworten kann. Es geht um ein neues Austarieren der Gewichte zwischen Nationen, Regionen, Kommunen und supranationalen Aufgaben. Dafür braucht es eine Wiederbelebung des Prinzips der Subsidiarität, unter dem der Zusammenschluß europäischer Staaten einst angetreten war und das vor allem im Zuge der Finanzkrise immer mehr verdrängt wurde. Wenn die euroskeptischen Parteien, ungeachtet aller Unterschiede zwischen beispielsweise dem Front National oder der Ukip von Nigel Farage, sich in dem Punkt einig sind, dann waren diese Europawahlen eine historische Wende.

Von Hollande sind, bei aller Nachdenklichkeit, weitere Impulse in diese Richtung nicht zu erwarten. Nur drei Prozent der Linkswähler in Frankreich, also sein eigenes Lager, würden aktuell für den amtierenden Staatspräsidenten stimmen. Eher würden die ehemaligen Hollande-Wähler heute dem Sozialdemokraten und Premierminister Manuel Valls, der Chefin des linken Flügels Martine Aubry oder selbst dem linksnationalistischen Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg den Vorzug geben.

Und es gibt noch eine Steigerung: Die Politik dieses Präsidenten unterstützt heute nur noch ein Prozent der Franzosen. Tiefer kann ein führender Politiker nicht mehr sinken. In den Medien wird offen die Frage diskutiert: Muß François Hollande zurücktreten? Ein Kommentator meint: „Bei den Präsidentschaftswahlen 1965 trug sich de Gaulle mit dem Gedanken zurückzutreten, sollte er nicht beim ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erhalten. Die Idee der Legitimität hängt nicht vom Wahlmodus ab, sie hat zuallererst etwas zu tun mit der Ehre.“ In der französischen Politik haben Begriffe wie Ehre, Verantwortung, Pflicht noch einen gewissen Stellenwert. Sie werden vor allem dann gehandelt, wenn man die Republik in Gefahr wähnt, auch wenn das für etliche Politiker heute gleichbedeutend ist mit der Gefährdung des eigenen Mandats oder der Zukunft der Partei. Es ist schwer vorstellbar, daß Hollande sich mit diesen Umfragewerten noch lange halten kann.

Zwar droht ihm von den Bürgerlichen keine unmittelbare Gefahr. Die konservative UMP hat gerade selbst einen Skandal zu bewältigen – Rechnungen im Wert von mindestens zehn Millionen Euro sind im Wahlkampf 2012 gefälscht worden – und sucht nach einer neuen Linie und Führung. Und der Front National wird sich bald eingestehen müssen, daß die 25 Prozent der letzten Wahl so großartig auch nicht sind. Wegen der geringen Wahlbeteiligung ist das Ergebnis verzerrt. In absoluten Zahlen sind es mit 5,4 Millionen Wählern rund eine Million weniger Wähler als bei der Präsidentschaftswahl 2012. Aber in die starren Fronten zwischen Rechts und Links ist Bewegung gekommen, eine Dynamik greift Platz, von der man nicht weiß, wohin sie führt.

Ratlosigkeit ist die erste Antwort in Paris. Ist es „nur“ die wirtschaftliche Situation oder doch auch die Angst vor zuviel Europa und zuviel Einwanderung? Überall in Europa macht sich der Aufschwung auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, nur in Frankreich nicht. Seit Hollande regiert, steigt die Zahl der Arbeitslosen. Bisher hat er vor allem dort reformiert, wo er die Linke hinter sich bringen konnte: Homo-Ehe, aktive Sterbehilfe, Erleichterung der Abtreibung. Sein Premier Valls jedoch blickt über den Tellerrand des eigenen Lagers. Er hat das Gesetz auf Eis gelegt, das Nichteuropäern die Teilnahme an Kommunalwahlen erlaubt hätte. Damit hätten insbesondere Marokkaner und Algerier wählen können – ein Rückzug und erstes konkretes Ergebnis der Europawahlen. Und anders als Hollande wird Valls sich auf die Stabilisierung der Staatsschulden und des Arbeitsmarktes konzentrieren. Aber welchen Paragraphen des Arbeitsgesetzbuches kann er antasten, ohne die Gewerkschaften auf die Straße zu bringen?

Es gibt in Frankreich ähnlich wie in Deutschland eine deutliche strukturelle Mehrheit rechts der Mitte. Sie ist nur nicht organisiert, das Land wird also links regiert. Wie lange werden sich die Franzosen das gefallen lassen? Frankreich ist im Umbruch und niemand weiß, ob das Land auf eine neue, die VI. Republik zutaumelt oder sich in der Ordnung des Ancien regime mit den ewigen Werten – Vaterland, Familie, Primat des Rechts – noch einmal fängt. Die bürgerlichen Parteien dienen mit ihren verwaschenen und ausgeblichenen Programm-Versatzstücken jedenfalls nicht mehr als Auffangbecken für enttäuschte Wähler, die sich nach diesen Werten sehnen. Identität verlangt Klarheit.

Berlin wird es stärker mit Partnern zu tun haben, bei denen quasi unsichtbar jemand mit am Tisch sitzt – in Paris genauso wie in London und auch in Brüssel.

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