© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Das Hohelied der artgerechten Tierhaltung
Lebensmittelbetrug: Hähnchen aus industrieller Mast werden als Neuland-Geflügel verkauft
Heiko Urbanzyk

Nicht wenige Verbraucher möchten, daß ihre Hähnchenbrust auf dem Teller vor der Schlachtung „wenigstens ein gutes Leben“ hatte. „Mit gutem Gewissen genießen“, verspricht der Neuland e. V. Der galt bisher als Aushängeschild für besonders artgerechte Tierhaltung vor dem Bolzenschuß. Man stelle noch höhere Anforderungen an den Tierschutz als der ökologische Landbau, verkündete Geschäftsführer Jochen Dettmer einst. Eine wachsende Käuferzahl belohnte dies mit steigender Nachfrage. Für Neuland-Qualität griffen sie gerne tiefer in die Tasche.

Journalisten observierten verdächtigen Betrieb

Doch das Vertrauen in Neuland dürfte dahin sein. Ein niedersächsischer Neuland-Geflügelbauer verkaufte in den letzten Jahren mehre hunderttausend Hähnchen aus Industriehaltung unter dem Qualitätssiegel. Statt „glücklicher Hähnchen“ mit heimischem Futtermittel servierte er Antibiotikabroiler aus Sojafütterung. Was wußte Neuland? Kann es artgerechte Tierhaltung überhaupt geben?

Den Skandal brachten Mitte April zwei Journalisten der Zeit ans Tageslicht. Sie observierten aufgrund eines Verdachts den Neuland-Bauern Werner L. aus dem niedersächsischen Warpe. Der Verdacht bestätigte sich. L. hatte seit dem Jahr 2004 weit mehr Hähnchen an Neuland verkauft, als er auf seinem Hof überhaupt hätte halten dürfen. Das, so meinen die Zeit-Redakteure, hätte bei Neuland auffallen müssen.

Neuland stand bisher nicht für einen Geschäftszweig – es ging um eine Philosophie. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), der Deutsche Tierschutzbund und die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft gründeten 1988 den Neuland e. V. „Das Ziel war und ist, eine soziale, qualitätsorientierte, tiergerechte und umweltschonende Tierhaltung mit hoher Glaubwürdigkeit und Transparenz auf bäuerlichen Betrieben zu praktizieren“, heißt es auf der offiziellen Netzseite. Der Trägerverein bestimmt die Richtlinien; drei selbständige GmbHs vertreiben die Erzeugnisse.

Die in der Zeit ermittelten Zahlen werfen die Frage auf, warum bei Neuland niemand etwas gewußt haben will. 6.000 Hähnchen hätte ein Mastbetrieb zur Hochzeit des Betrugs höchstens halten dürfen. Dies habe eine Jahresproduktion von 30.000 Tieren ermöglicht. 130.000 Hähnchen habe der Bauer jedoch zuletzt liefern müssen – und er lieferte. Die restlichen 100.000 pro Jahr wurden aus konventioneller Haltung beschafft, fern jeglicher Transparenz und Artgerechtheit. Solche Differenzen will bei Neuland niemand bemerkt haben.

Erst als man im Jahr 2012 von L. verlangt, eine neue Hähnchenrasse zu züchten, wird man bei Neuland laut einer Presseerklärung stutzig. Der „Neuländer“ lehnt die neue Rasse ab: zu unwirtschaftlich. Tatsächlich wäre es mit der neuen Rasse aufgefallen, daß L. aus konventionellen Betrieben zukauft. Dennoch kündigt Neuland erst über ein Jahr später, im Oktober 2013, die Prüfung des Hofes an. In Panik kündigt der Bauer seinen Vertrag mit Neuland und verdirbt dem Verein das Weihnachtsgeschäft.

Für Nachfragen stand Neuland bis zum Redaktionsschluß dieser Ausgabe nicht zur Verfügung. Zwar werden Pressevertreter zum Geflügelskandal offiziell auf die Mobilfunknummer des Bundesgeschäftsführers Jochen Dettmer verwiesen. Bei Anruf der JUNGEN FREIHEIT heißt es jedoch: „Momentan keine Interviews.“ Man stecke noch mitten in der Aufklärung.

Der Neuland-Skandal demontiert das strahlende Bild eines Vorzeigekonzeptes. Wird dies andere ökologische Verbände in Mißkredit bringen, die ähnlich hohe Ansprüche in der Erzeugung tierischer Produkte verkünden?

Die Pressesprecherin des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), Joyce Moewius, teilt auf Anfrage mit, ihr Bio-Spitzenverband sei darauf bedacht, daß „wir alle Anstrengung darauf verwenden, daß Neuland und bio auseinandergehalten werden – und es auch keine Vermischung in der Berichterstattung gibt“. Es solle Klarheit beim Kunden darüber herrschen, daß nur bio drin sei, wo bio draufsteht – „und das ist bei Neuland nun einmal nicht der Fall“.

Kollidiert hohe Nachfrage mit schonender Tierhaltung?

Zwar ist gemäß den Richtlinien, die Neuland veröffentlicht, die Bestands­obergrenze zwischenzeitlich auf 16.000 Tiere pro Betrieb erhöht worden. Das entspricht einer möglichen Jahresproduktion von 80.000 Tieren. Laut Zeit mußte Neuland trotz dieser Aufweichung der Kriterien mittlerweile einem weiteren Geflügelzüchter den Vertrag kündigen. Der Hof ist mit 54.000 Hähnchen immer noch zu groß. Bauer L., Vater von zehn Kindern, erhebt in mehreren Medien mittlerweile Vorwürfe gegen Neuland, Lieferzahlen verlangt zu haben, denen man unter Einhaltung der Richtlinien nicht nachkommen könne.

Es scheint, als lasse die Nachfrage eine „artgerechte Tierhaltung“ und „kleinbäuerliche Betriebe“ kaum zu. Muß sich neben Neuland auch die echte Biobranche dem fügen? Renée Herrnkind vom biologisch-dynamischen Demeter-Verband bestätigt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT den Mengendruck. Es sei der Konsument gefragt, welche Art von bio er wolle. „Demeter bleibt bei seiner konsequenten Qualitätsausrichtung, da gibt es keine Aufweichung von Richtlinien.“

Der Vegetarierbund Deutschland (Vebu) sieht sich durch den Neuland-Skandal darin bestätigt, daß auch solche Qualitätssiegel wegen der steigenden Nachfrage nicht ohne Tierleid auskommen. „Also hilft langfristig nur eine starke Reduktion der Nachfrage“, sagt Stephanie Stragies vom Vebu gegenüber der JUNGEN FREIHEIT.

Ob unabhängig von dem aktuellen Skandal „artgerechte Neuland-Tierhaltung“ beim heutigen Konsumniveau künftig überhaupt möglich sei, fragten wir auch Dettmer: „Keine Interviews, nein!“

www.neuland-fleisch.de

www.boelw.de 

www.demeter.de

www.vebu.de

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