© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Alternativlos in den Vielvölkerstaat
Die Reihen fest geschlossen: Impressionen aus der „Zeitschrift für Ausländerrecht“, dem Theorieorgan der multikulturellen Gesellschaft
Wolfgang Müller

Was soll man vom wissenschaftlichen Anspruch eines Periodikums halten, das seit Jahrzehnten erscheint, in dem Heerscharen promovierter und habilitierter Autoren zu Worte kommen, allesamt seit 1968 angeblich erzogen zu „kritischem Bewußtsein“, die aber, wie von einem allmächtigen Souffleur instruiert, stets einer Meinung sind? Dabei sitzt der Verlag nicht etwa im fernen Pjöngjang, sondern in Baden-Baden. Was kein Standortnachteil sein muß, wenn nordkoreanische Linientreue der Maßstab ist, wie die seit 1981 erscheinende Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) beweist.

Das gußeiserne Dogma, das keine „Gleichschaltung“ verfügte und gegen das trotzdem nie ein ZAR-Beiträger als Ketzer aufgetreten ist, lautet: Einwanderung ist „alternativlos“. Eine berüchtigte Vokabel aus Angela Merkels nicht eben überquellendem rhetorischen Schatzkästlein, der sich ihr Altersgenosse Klaus Barwig in seinem Rückblick auf „Ein halbes Jahrhundert Arbeitsmigration nach Deutschland – ein halbes Jahrhundert Familiennachzug“ (ZAR, 2/2014) aber allzu gern bedient. Barwig, Leiter des Referates „Migration – Menschenrechte – Nachhaltigkeit“ an der katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, ist seit 37 Jahren in der Ausländerpolitik beruflich engagiert, er hat seine Existenz darauf gegründet.

„Deutschland braucht alle Ankömmlinge“

Für einen derartig ideologisch gefestigten Lobbyisten der Politik offener Grenzen ist die aktuelle Debatte über die „sogenannte Armutszuwanderung“ selbstredend nur eine von vielen „Geisterdiskussionen“. Nach Barwigs Einschätzung braucht Deutschland alle Ankömmlinge: „Keiner darf verlorengehen.“ Wo die „mitgebrachten Talente“ der Einwanderer aus vormodernen Gesellschaften Afrikas und Vorder-asiens etwas zu wünschen übriglassen, seien die Einheimischen eben dafür verantwortlich, sich „gezielt um deren Anschlußfähigkeit zu kümmern“, um deren drohenden „Abstieg“ zu verhindern, nur „weil das Mitgebrachte noch nicht reicht“. Nicht allein wie bislang als Weltsozialamt, auch als Klippschule und Lehrlingswerkstatt für alle Mühseligen und Beladenen unter der Sonne soll Deutschland in der kosmopolitischen Utopie des sozialromantischen Träumers aus Rottenburg verfügbar sein.

Dabei belegt Barwigs Chronik von fünfzig Jahren „Arbeitsmigration“ unfreiwillig eindrucksvoll, wie zäh sich die „Mehrheitsgesellschaft“, verhaftet in „Rückführungs- und Rückkehrphantasien“, gegen das ihr von einer Minderheit aufgenötigte Projekt „Einwanderungsland“ gewehrt hat. Bis in die 1980er, als die Zahl der Asylbewerber erstmals die 100.000er-Grenze überschritt und parallel dazu der „Familiennachzug“ aus der Türkei als unerträglich empfunden wurde, blieb die Bundesregierung zumindest ansatzweise bemüht, dem Mehrheitswillen zu entsprechen. So versuchte etwa Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU), die Leitidee des „Heidelberger Manifestes“ (1981), in dem eine Reihe von Professoren das „Ende der Masseneinwanderung“ forderte, und das Barwig reflexartig als Dokument des „Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit“ schmäht, legislativ umzusetzen, um die „Einleitung einer unumkehrbaren Entwicklung zum Vielvölkerstaat“ zu verhindern, vor der die CDU/CSU-Bundestagsfraktion immerhin noch im November 1981 gewarnt hatte. Katholischen Würdenträgern blieb es vorbehalten, ähnliche Gesetzesinitiativen der baden-württembergischen Landesregierung Lothar Späths (CDU) als „Rausschmißpolitik“ zu denunzieren.

Überhaupt kommt Minderheiten aus Barwigs Sicht das „Verdienst“ zu, den Mehrheitswillen und den seit den Anfängen der „Gastarbeiter“-Anwerbung dominierenden „Allparteienkurs“ gegen Einwanderung letztlich gebrochen zu haben. Kirchen, Wohlfahrtsverbände, nach einigem Zögern auch die Gewerkschaften, sowie Teile der Großindustrie (Daimler und Co.) und die FDP-Minister im Kabinett Helmut Kohls wären hier zu nennen. Als im April 1989 Zimmermann Wolfgang Schäuble weichen mußte, habe dessen neues Ausländergesetz eine „jahrzehntelange deutsche Lebenslüge beendet“ und im Juli 1990 die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal politisch wiedervereinigte Nation zum „Einwanderungsland“ deklariert. Von da bis zum rot-grünen Zuwanderungsgesetz vom 1. Januar 2005 war es lediglich ein kurzer, konsequenter Schritt.

Wenig erstaunlich, wenn im Weltoffenheitstaumel der rotgrünen Schröder/Fischer-Ära auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich nicht als Spielverderber erweisen wollte. Im Anschluß an Barwigs Retrospektive zur Ausländerpolitik erinnert die Bundesverfassungsrichterin Gabriele Britz an Karlsruher Weichenstellungen von 2004, die den nunmehr unter umgekehrten Vorzeichen herrschenden Allparteienkurs des entfesselten Multikulturalismus stützten.

In zwei Entscheidungen zum Kinder- und Erziehungsgeld hob das Gericht die bis dahin 55 Jahre lang verfassungsrechtlich nicht beanstandete Ungleichbehandlung von Deutschen und Ausländern bei der Gewährung staatlicher Sozialleistungen faktisch auf. Und zwar mittels einer zirkelschlüssigen dogmatischen Konstruktion, der zufolge Staatsangehörigkeit allein die Ungleichbehandlung nicht rechtfertige. Das BVerfG habe daher „angenommen“, wie Britz formuliert – um nicht deutlicher zu sagen: politisch bedingt dekretiert – daß „Ausländer sein“ den absoluten Diskriminierungsverboten in Artikel III, Absatz 3 Grundgesetz (Geschlecht, Abstammung, Rasse usw.) „nahekomme“.

Fiskalische Interessen dürfen keine Rolle spielen

Die roten Roben bestätigten 2012 diese strengeren Rechtfertigungsanforderungen abermals in Entscheidungen zum Leistungsrecht. Fiskalische Interessen, mit denen die Begrenzung von Sozialleistungen auf Deutsche begründet werden könnten, dürften ebensowenig wie „migrationspolitische Überlegungen“ zur „Anreizverminderung“ und zur Abwehr von „Wanderungsbewegungen“ eine Rolle spielen. Selbst das Fehlen eines dauerhaften Aufenthaltes, wie Britz, stramm auf ZAR-Kurs, zustimmend zitiert, legitimiere nicht automatisch jede Differenzierung hinsichtlich der Gewährung von Sozialleistungen.

Womit die pensionsberechtigten Besserverdiener des BVerfG 2012 ihren ähnlich gepolsterten Luxemburger Kollegen des Europäischen Gerichtshofs vorauseilten, die jüngst mit ihrer Entscheidung zu den Kindergeldansprüchen ausländischer Saisonarbeiter (JF 21/14) generös das Geld deutscher Steuerzahler verteilten.

Foto: Familie mit Kind und drei junge Frauen mit Kopftüchern in einem Kölner Fußgängertunnel: „Keiner darf verlorengehen“

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