© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

„Afrika ist viel brutaler als Europa“
Besuch in Ceuta: Tausende illegale Migranten suchen über die spanische Exklave den Weg nach Norden / Überfüllte Lager, aber beste Stimmung
Hinrich Rohbohm

Sein Traum ist das europäische Festland. Sehnsüchtig schweift Henrys Blick über das Meer. Der dunkelhäutige Mann steht auf einem Felsplateau, unweit des Notaufnahmelagers der spanischen Stadt Ceuta. Jener Exklave in Afrika, die sich für Zehntausende illegale Migranten zum Einfallstor in die Europäische Union entwickelt hat.

Wie auf Abruf hat der 30jährige seinen Koffer bei sich. Stets darauf hoffend, bald jenen anzugehören, die die Straße von Gibraltar passieren dürfen. Dort drüben arbeiten, eine Familie gründen. Das ist Henrys Traum. Er blickt zum Himmel und lächelt. „Ich hoffe auf Gott und darauf, daß er einen Weg für mich findet“, sagt er. Henry ist nicht sein richtiger Name. Er steht vielmehr auf dem rot-blau gestreiften Hemd, das der gelernte Mechaniker trägt. Ein Trikot des FC Barcelona. „Schon als Kind war ich Fan von dem Verein.“

Wie er wirklich heißt, möchte er nicht verraten. Zu groß ist die Angst, vielleicht doch wieder in den Süd-Sudan zurück zu müssen. Jene Heimat, in der er einen moslemischen Vater hat. Der verlangt, daß seine Mutter zum islamischen Glauben übertreten soll.

Schwimmend die Barrikaden passiert

Die Mutter weigert sich, bezahlt mit ihrem Leben. Henry und seine 24 Jahre alte Schwester müssen fliehen. Vor der islamischen Familie des Vaters, den religiös fanatisierten Nachbarn, den Arbeitskollegen. Es folgt eine Odyssee durch Westafrika, die in Marokko endet, wenige Kilometer vor Ceuta.

Gemeinsam mit Tausenden anderen Flüchtlingen verstecken sich die Geschwister in den Wäldern der umliegenden Berge, um der Verhaftung und Abschiebung durch die marokkanischen Behörden zu entgehen. Mit denen hat die EU ein Abkommen: Abschiebung der Flüchtlinge. Brüssel zahlt dafür.

Dennoch gelangen Monat für Monat neue Illegale nach Ceuta. So auch Henry. Zusammen mit 500 anderen gelingt es ihm zu Jahresbeginn, einen der Zäune zu zerstören. Die Guardia Civil ist alarmiert, feuert mit Gummigeschossen in die anstürmende Menge, die sich ins eiskalte Meer stürzt, um schwimmend an den restlichen Barrieren vorbeizukommen. Im Wasser erwischt auch Henry eine Gummipatrone am rechten Oberarm, er schreit auf. „Der Schmerz war brutal, für kurze Zeit konnte ich mich nicht mehr bewegen, ich dachte, jetzt muß ich ertrinken.“ Henry schluckt Wasser. Nur langsam beginnt sein Körper wieder, seinem Willen zu gehorchen.

Er denkt in diesem Moment nur eins: weiterschwimmen, immer weiterschwimmen, egal was kommt. Der kräftig gebaute Mann weiß: Schafft er es, den Strand von Ceuta zu erreichen, ist er gerettet. Seine Schwester ist noch irgendwo in Marokko. „Eine Frau hätte eine solche Flucht nicht durchgehalten“, erklärt er. Seit seiner Ankunft in Ceuta hat er keinen Kontakt zu ihr. Er macht sich sorgen. „Es gibt da zuviel Gewalt.“ Vergewaltigungen. Raubüberfälle.

Entgegen den Aussagen von Hilfsorganisationen empfindet er die Zustände im Flüchtlingslager von Ceuta als angenehm. „Die hygienischen Zustände sind in Ordnung. Wir bekommen regelmäßig gutes Essen und können uns in Ceuta frei bewegen. Problematisch sei nur das überfüllte Lager. „Da kannst du dann einfach nicht richtig schlafen.“ Derzeit befänden sich über 700 Flüchtlinge in der zur Festung ausgebauten Notunterkunft. Vor einigen Monaten sollen es mehr als 1.000 gewesen sein.

Polizisten bewachen das Anwesen, patrouillieren um das Grundstück. Den Zutritt gestatten sie nicht. Auch Fotoaufnahmen untersagen sie. Kameras überwachen die von großen Baumbeständen geprägte Umgebung, die aufgrund des Laubes von der Küste aus kaum einsehbar ist. Immer wieder raschelt es im umliegenden Gebüsch. Viele Schwarze halten sich in dem Grün auf, in das sie auf Trampelpfaden eintauchen. Sie tragen Plastiktüten mit sich, in denen sie Essen und Dosenbier mit sich führen.

Henry hat ebenfalls Dosenbier dabei, bietet eine der Büchsen an. „Geld bekommen wir hier zwar nicht, aber viele verdienen sich mit Hilfsarbeiten was dazu. Auch er macht das, hilft Autofahrern beim Ein- und Ausparken. Manchmal drückt ihm dafür jemand einen oder zwei Euro in die Hand. „Am Tag komme ich so im Schnitt auf zehn Euro.“ In Afrika habe er Angst haben müssen. Angst, nachts ausgeraubt, überfallen, niedergeschlagen oder getötet zu werden.„Hier ist es sicher, es herrscht Frieden. Das ist ein angenehmes Gefühl.“

Etwas abseits von ihm sitzen Benny, Ibrahim und Muhammed. Sie sehen das ähnlich. „Wir sind hier sehr zufrieden.“ Die drei kommen aus Conakry, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Guinea. Benny und Ibrahim hatten die Westgrenze überwunden, schwammen nachts im Schutze der Dunkelheit unbemerkt von den Grenzschützern in spanische Gewässer, erreichten vollkommen entkräftet die Küste von Ceuta.

Ihr Freund Muhammed ist hingegen schon vor eineinhalb Jahren angekommen. Per Boot hatte er mit anderen Flüchtlingen die Ostgrenze umgangen. Die Gruppe hatte bereits spanisches Hoheitsgebiet erreicht, als sie in Seenot geriet und zu ertrinken drohte. Die Polizei rettete sie, der damals erst 15jährige Muhammed hatte es geschafft.

Daß zahlreiche Afrikaner trotz der in der Straße von Gibraltar vorherrschenden Winde ihre Flucht über das Wasser versuchen, hat seinen Grund. Denn die Landgrenze ist zu einer regelrechten Festung ausgebaut. Sieben Meter hohe Mauern, Stacheldraht, Videokameras und Polizeipatrouillen sollen die illegale Einreise verhindern. Mehrere Absperrzäune auf spanischer Seite, eine neutrale Zone und hohe Mauern auf der marokkanischen Seite verbarrikadieren die Gegend. Der Grenzübergang in Tarajal ist noch schärfer bewacht. Der schmale Fußgängerweg gleicht einem Löwengang zur Zirkusmanege.

Hunderte Meter geht das so. Jenseits des spanischen Zuständigkeitsbereichs wird die zuvor geruhsame Stimmung plötzlich hektisch und aggressiv. Marokkaner wollen Passierscheine verkaufen, fordern 20, manchmal 25 Euro. Ohne diesen Zettel keine Einreise nach Marokko, sagen sie. Was sie nicht erzählen: Das Formular gibt es an der Paßstelle wenige Meter weiter gratis. Einige Händler sprechen Deutsch. Kauft man ihnen keinen Schein ab, werden sie ausfallend. „Was willst du dann hier, dann verpiß dich doch, du deutsches A...“

Für Henry sind solche Töne nichts Ungewöhnliches. „Afrika ist viel brutaler als Europa. Deutschland ist reich, ihr müßt uns helfen.“ Doch Deutschland muß schon für die Euro-Krisenländer und deren Schulden aufkommen. Henry reißt die Augen auf. „Was? Seid ihr verrückt?“ Schon möglich.

Foto: Der Süd-Sudanese Henry wartet auf den Sprung nach Gibraltar: Wer es schafft, Ceutas streng gesicherte Grenzanlagen (l.) zu überwinden, genießt dort das Leben mit Dosenbier und Nichtstun in vollen Zügen

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