© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Im System zeigen sich Risse
Europawahl: Der Verlust von Abgeordnetenmandaten an die kleinen Parteien geht an die Substanz der Etablierten
Paul Rosen

Schon vor der Europawahl hatte man im Ältestenrat des Bundestages das Unheil für die Etablierten kommen sehen. In dem Gremium, in dem die Spitzen der Bundestagsfraktionen einträchtig nebeneinander sitzen und ihre Angelegenheiten meistens einvernehmlich zu regeln pflegen, planen die Vertreter von CDU/CSU, SPD, Grünen und Linken beinahe Ungeheuerliches: Sie wollen ihre bisher im Abgeordnetenrecht weitgehend gleichgestellten Straßburger deutschen Kollegen entrechten und Privilegien streichen. Allerdings dürfte das Europawahlergebnis vom 25. Mai weit mehr Folgen haben als das Verbot der Dienstwagenbenutzung für EP-Abgeordnete in Berlin. Im ganzen System zeigen sich Risse.

Um zu verhindern, daß über den Umweg Europa Vertreter der Alternative für Deutschland (AfD) oder sogar der eine Abgeordnete der NPD in Berlin plötzlich genau dieselben Annehmlichkeiten wie Bundestagsabgeordnete in Anspruch nehmen können, soll sich einiges ändern. Denn Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nannte es einen „Graus, daß auch eine NPD aus Deutschland im Europaparlament vertreten sein wird“. Doch nicht nur die NPD hat den Etablierten Sitze weggenommen. Wenn AfD- und andere EP-Abgeordnete in Berlin die Fahrbereitschaft des Bundestages nicht mehr benutzen sollen, ist das verschmerzbar. Aber auch eigene Büros im Bundestag soll es für Mitglieder des Europäischen Parlaments nicht mehr geben. Und es wird überlegt, ihnen die Bibliothek sowie den Zugang zum Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zu nehmen.

Büros, Wissenschaftlicher Dienst und Bibliothek können existenziell wichtig sein, wenn man in der deutschen Politik mitreden will. Die EP-Mitglieder von Union, SPD, Linken und Grünen können sich leicht über ihre Bundestagsfraktionen Zugang zu Büros und Dokumenten verschaffen, die AfD und übrigens jetzt auch die FDP können das nicht. Grund für die Maßnahme ist natürlich der Versuch, der Konkurrenz das Leben so schwer wie möglich zu machen. „Durch den Wegfall der Dreiprozenthürde könnten nach der Europawahl auch Abgeordnete radikaler Parteien diese Chancen nutzen“, wußte die Bild über den Grund für die Hektik im Ältestenrat zu berichten.

Erfolg der CSU war nur eine Scheinblüte

Der Dammbruch für die Etablierten ist längst erfolgt. Schon nach der Bundestagswahl 2013, als AfD- und FDP-Stimmen außen vor blieben und es nur eine niedrige Wahlbeteiligung gab, warnte die Bertelsmann-Stiftung: „Aus der drastisch schrumpfenden Repräsentanz ergeben sich aus Sicht vieler Wähler ernsthafte Legitimitätsverluste des Parlaments.“ Denn nur noch 59,5 Prozent der Deutschen werden von den Bundestagsabgeordneten vertreten. Rechnet man Wahlbeteiligung und Stimmen für die Neuparteien mit, ergibt sich für die Bundestagsparteien bei der EU-Wahl ein noch schlechteres Bild. Der Legitimationswert sinkt auf nur noch rund 40 Prozent.

Zu schaffen macht den Etablierten besonders der Verlust bequemer und üppig dotierter Abgeordnetensessel. Drei Sitze waren schon weg, weil die Zahl der deutschen Mandate gegenüber der Wahl vor fünf Jahren um drei auf 96 reduziert wurde. Weitere 14 Sitze gingen jetzt an AfD, Freie Wähler, Tierschutzpartei, Familienpartei, Piraten, ÖdP, NPD und Die Partei verloren. Wenn man weiß, daß Abgeordnete in erster Linie nicht die Interessen ihrer Wähler im Parlament wahrzunehmen, sondern das Partei- und Wahlvolk zu beobachten und zur Not unter Kontrolle zu bringen haben, so reißt der Verlust von 17 Mandatsträgern mit Freiflugberechtigung und Bahn-Dauerkarte natürlich Lücken auf, die schwer oder gar nicht zu schließen sind. Werden die Mandatsverluste bei weiteren Wahlen zum Beispiel zu Landtagen größer, droht der Kontrollverlust über ganze Regionen, die Abgeordnete zur Zeit beherrschen wie mittelalterliche Vögte die ihnen zugewiesenen Ländereien. Hinzu kommt, daß jedem Abgeordneten etwa drei persönliche Referenten zuzuordnen sind, die er aus Staatsgeldern bezahlt. Damit fallen allein bei den Etablierten rund 50 Referentenstellen weg.

Nach dem Wegbrechen der FDP besteht für eine weitere deutsche Partei höchste Gefahr. Die historische Niederlage für die CSU mit dem Verlust von 7,6 Prozentpunkten (bezogen auf Bayern) und drei Sitzen zeigt, daß Horst Seehofers absolute Mehrheit bei der Landtagswahl nur eine Scheinblüte war. Die Edathy-Affäre, bei der die CSU regelrecht vorgeführt und ihr Landwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich von Kanzlerin Angela Merkel einerseits und der SPD andererseits davongejagt worden war, hat vielen Bayern klargemacht, daß es mit der früheren Stärke der CSU in Berlin beziehungsweise Bonn nicht mehr weit her ist.

Hinzu trat ein unglaubwürdiges Auftreten mit dem Euro-Kritiker Peter Gauweiler auf der einen Seite und einer EU-hörigen CSU-Abgeordnetenmannschaft auf der anderen Seite. Das konnte nicht gutgehen, auch wenn die Probleme tiefer liegen: „Die Ursache für diese Katastrophe liegt in der Politik der letzten fünf Jahre“, sagt der frühere Parteichef Erwin Huber. Hämische Kommentare sollte sich die CDU aber besser sparen: Bisher hatte immer der Süden für die überdurchschnittlichen Ergebnisse gesorgt. CDU und CSU sind wie siamesische Zwillinge; geht es einem schlecht, wird er andere auch krank.

Foto: Bundeskanzlerin Angela Merkel: Der Verlust von 17 Mandatsträgern reißt eine Lücke, die schwer zu schließen ist

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