© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Der verzögerte Schock
Nach der Etablierung bei der Europawahl: Für die AfD kommen jetzt die Mühen der Ebene
Dieter Stein

Europaweit setzten sich Euro- und EU-kritische Parteien durch und errangen spektakuläre Zugewinne. Vorneweg in Großbritannien und Frankreich wurden sie mit Nigel Farages Ukip und Marine Le Pens Front National jeweils sogar stärkste Partei. In Italien triumphierte der Populist Beppe Grillo mit seiner Bewegung „Fünf Sterne“. Politiker der etablierten Parteien versuchen die Ergebnisse als Momentaufnahmen kleinzureden, schließlich hätten „proeuropäische“ Parteien immer noch klare Mehrheiten. Tatsächlich sind die Ergebnisse eine herbe Schlappe für das Brüsseler Establishment und jene politischen Kräfte, die unverändert am Euro und einer zentralistischen Integration der EU festhalten. Die Wahlergebnisse sind ein „Erdbeben“ (FAZ), für die meisten Parteiensysteme eine „traumatische Schockwelle“ (taz).

Weniger dramatisch scheinen die Ergebnisse in Deutschland, wo sich die Euro-Kritiker um Bernd Lucke auf fast schon unspektakuläre Weise etablierten. Das politische Berlin reagierte demonstrativ gelassen, hatte man die nun erzielten bundesweit sieben Prozent doch „seit Monaten eingepreist“ (Cicero). Viele Beobachter hatten ein noch höheres Ergebnis für möglich gehalten. So die linksliberale Zeit, die noch in der Woche vor der Wahl alarmiert das Szenario eines drohenden zweistelligen Ergebnisses bemüht hatte. Für die erst vor einem Jahr gegründete AfD handelt es sich um mehr als einen Arbeitssieg. Die Euro-Krise, die die Gründung der Partei mitauslöste, hat in den letzten Monaten für die Deutschen an Dramatik verloren. Es dominierten beruhigende Nachrichten von einer Beruhigung der Lage. Die deutsche Wirtschaft brummt, der Arbeitsmarkt hat sich weiter entspannt, vor der Wahl verteilte die Große Koalition noch großzügige Rentengeschenke – die Zeichen standen auf Harmonie und nicht auf politischen Umbruch.

Zudem neigen wir Deutschen nicht zu schnellen politischen Kursänderungen. Präferenzen für neue Parteien werden nur zögerlich gewechselt. Die Grünen brauchten nach ihrer Gründung vier Jahre, bis sie 1983 im zweiten Anlauf mit 5,6 Prozent den Einzug in den Bundestag und ein Jahr später 1984 mit 8,4 Prozent in das Europaparlament schafften. Die Ökopartei baute bei ihrem Aufstieg immerhin auf eine seit der Studentenrevolte 1968 gewachsene breite Alternativszene aus Hunderten Bürgerinitiativen und bei Friedensdemonstrationen Hunderttausende mobilisierende Protestbewegung auf.

Die AfD kann sich nicht auf eine solche vitale Subkultur oder ein festgefügtes Milieu stützen. Sie mobilisiert dennoch in einer für deutsche Verhältnisse um so atemberaubenderen Geschwindigkeit Anhänger aus einer bürgerlichen Mitte, die für besondere Zögerlichkeit bekannt ist. Lenins spöttische Bemerkung über deutsche Revolutionäre, die erst eine Bahnsteigkarte lösten, bevor sie einen Bahnhof stürmten, treffen unseren Nationalcharakter. Trotz einer dem Hochfrequenzhandel an der Börse ähnelnden neuen Gegenöffentlichkeit in sozialen Netzwerken des Internet unterliegen Parteibindungen und Wahlentscheidungen unverändert trägen, längerfristigen Überzeugungen und Bindungen.

Herausstechend bei den Einbußen der Union sind die dramatischen Verluste der CSU, die ausgerechnet jene der beiden Schwesterparteien treffen, die am stärksten eurokritischen Positionen Raum gegeben hatte. Es wäre ein Trugschluß, damit wünschten sich bayerische Wähler eine EU-freundlichere CSU. Sie schlugen nur den bayerischen Sack (Seehofer) und meinten den Esel (Merkel).

Für die CDU hat sich die parteipolitische Lage tiefgreifend geändert: Die FDP als natürlicher liberaler Mehrheitsbeschaffer fällt vorerst aus. Unter Verweis auf die Option zwischen Großer Koalition und Schwarz-Gelb, neuerdings sogar Schwarz-Grün, verkaufte die Merkel-CDU ihren Anhängern und Stammwählern seit Jahren einen angeblich alternativlosen Linkskurs, der als „Modernisierung“ verbrämt wurde. Hier hat eine kontinuierliche Entfremdung zu bürgerlichen Kernschichten stattgefunden. Nun steht die CDU plötzlich einer bürgerlichen AfD gegenüber, die sie mit einer im Kern konservativen Agenda unter Zugzwang setzt und das Feld der Enttäuschten aufrollt. Am Wahlabend traten die Spitzenkandidaten um AfD-Chef Lucke demonstrativ mit ihren Kindern auf die Bühne, für deren Zukunft man Politik zu machen gedenke. Auch eine Anspielung auf die Preisgabe des traditionellen Familienbildes durch die Union, der zuletzt der Beifall Alice Schwarzers wichtiger war als die Haltung des Papstes.

Für die AfD kommen jetzt die Mühen der Ebene. Der Zauber, der jedem Anfang innewohnt – dieser Charme des Neuen –, ist jetzt verflogen. Nun steht das harte Brot des Ausbaus tragfähiger Strukturen auf kommunaler und Landesebene an. Die Partei muß politische Reife zeigen. Mit der Landtagswahl in Sachsen, wo die AfD mit 10,1 Prozent das beste Landesergebnis einfuhr, stehen die Chancen hierfür denkbar günstig.

Es stehen Flügelkämpfe, programmatische Klärungen und Präzisierungen der politischen Positionierung ins Haus. Die brüske Zurückweisung jeder Zusammenarbeit mit dem populären EU-Gegner Nigel Farage ist für viele Anhänger erklärungsbedürftig. Die gewalttätigen Angriffe durch Linksextremisten und die Rechtspopulismusvorwürfe in den Medien könnten eine Wagenburghaltung provozieren, der die Partei genausowenig erliegen darf wie opportunistischer Anpassung. Noch nie war die Chance größer, daß sich eine freiheitlich-konservative Kraft neben der Union in Deutschland fest etabliert. Es ist absehbar, daß sich die für die AfD konstitutive Euro-Problematik national nicht dauerhaft erledigen läßt. Die Krise ist nur vertagt. Die Zeit spielt also für die AfD, wenn sie aus Fehlern der Piratenpartei lernt, der die Anfangserfolge zu Kopf stiegen und die nun im Untergang begriffen ist.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen