© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Keine Geheimnisse mehr
Zwei „Spiegel“-Journalisten reflektieren die durch Edward Snowden offenbarte Datensammelwut des US-Geheimdienstes NSA
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Das aktuelle Buch der Spiegel-Redakteure Marcel Rosenbach und Holger Stark beschreibt zum einen die Entwicklung des US-Geheimdienstes National Security Agency (NSA) besonders seit dem Anschlägen am 11. September 2001 sowie andererseits den Werdegang Edward Snowdens vom patriotisch motivierten Geheimdienstler bis zur Flucht und seinem jetzigen Aufenthalt in Moskau. Die Autoren wissen, daß sie sich dabei auf einer gefährlichen Gratwanderung befinden zwischen einer näheren Beschreibung der heutigen Überwachungspraktiken, die nach ihrer Ansicht im öffentlichen Interesse liegt, und der – von ihnen zuweilen unterschätzten – Gefahr, mit dieser Veröffentlichung den Feinden westlicher Demokratien in die Hände zu spielen.

Kein Staatsgeheimnis jedenfalls ist, daß die NSA mit einem Etat von über 10,6 Milliarden Dollar der größte Nachrichtendienst der westlichen Welt ist; es sind nicht nur seine 40.000 Angestellten, sondern weitere viele tausend Mitarbeiter in Form privater Unternehmen. Snowden trat mit seinem Motiv, sein Vaterland verteidigen zu wollen, 2006 der CIA bei. Doch schon der erste Einsatz in Genf, bei dem ein Schweizer Bankier auf recht unschöne Art zur Mitarbeit erpreßt wurde, ließ bei ihm erste Zweifel entstehen.

Nach Snowdens Ansicht seien die Überwachungsmöglichkeiten der NSA und ihr Datenhunger nahezu grenzenlos. In einem Rechtsstaat sei eine verdachts-unabhängige Kontrolle von Personen verboten, unbedingte Voraussetzung dafür sei ein begründeter Anlaß. Doch seit jenem 11. September 2001 habe die neue Überwachungsideologie der Vereinigten Staaten diese rechtsstaatlichen Prinzipien ins Gegenteil verkehrt. Snowden hätte seine Arbeit kündigen können, stattdessen wechselte er zu einem privaten Dienstleister der NSA, nach seinen Worten mit dem Ziel, möglichst viel über deren Tätigkeiten zu erfahren. Er versteht sich dabei „als Verfassungspatriot“, „als moderne Form eines klassischen Freiheitskämpfers“. Realistischer ist wahrscheinlich eher die Beurteilung Washingtons, seine Enthüllungen seien „der schlimmste Diebstahl geheimen Materials in der Geschichte des US-Geheimdienstes“ und er habe seinem Land „Schäden von historischem Ausmaß“ zugefügt. Demgegenüber stellen die Autoren jedoch heraus, daß in Deutschland namhafte Personen ihn für das Bundesverdienstkreuz, die Ehrendoktorwürde und sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hätten.

Natürlich stellt sich immer wieder die schwerwiegende Frage, wie weit ein Geheimdienst gehen darf, um seine Bürger zu schützen und somit seiner obliegenden Pflicht nachzukommen, und wo andererseits diese legitimen Sicherheitsinteressen enden und die Überwachung vielleicht sogar totalitäre Züge annimmt – die Stasi der DDR ist hierfür ein abschreckendes Beispiel. Es ist wohl etwas dran an der gern formulierten Erklärung, man könne nicht hundertprozentige Sicherheit haben und gleichzeitig hundertprozentige Privatsphäre erwarten. Wenn Snowden für die heutigen Vereinigten Staaten einen „Totalverlust der Privatsphäre“ sieht, schießt er aber wohl weit über das Ziel hinaus.

Richtig ist, den Anschlag vom 11. September als Desaster, als komplettes Versagen der NSA zu charakterisieren. Man hatte die Täter nicht rechtzeitig erkannt, obwohl deren Gespräche mitgeschnitten – aber erst einen Tag später übersetzt worden waren. Zu den Auswirkungen auf den Geheimdienst zählte es nach Snowdens Meinung, daß juristische Bedenken fortan belanglos wurden. Es ging fortan nicht nur gegen den weltweiten Terrorismus, sondern, wie der NSA-Chef offen erklärte, „um die weltweite Informationsvorherrschaft“. Die Abteilung „Special Collection Service“ mit ihren achtzig Lauschstationen weltweit interessiert sich für ausländische Botschaften und besonders wichtige Politiker. Symptomatisch sind die Angriffe auf das Mobiltelefon von Bundeskanzlerin Merkel. Die Europa-Zentrale der NSA befindet sich angeblich in Griesheim, ein weiterer Stützpunkt in Wiesbaden.

Dem Buch zufolge erkannten die USA sehr schnell die Bedeutung des Internets als eines „Schlüssels zur Macht“. Der Leser erfährt Interessantes über Smartphones, welche für das Abhören des US-Dienstes ein „ferngesteuertes Spionagewerkzeug“ darstellen und für den Besitzer „zum Feind in der eigenen Tasche“ werden. Im Cyberwar besitzt Nordamerika „die besten Cyber-Offensivkräfte der Welt“, die Lahmlegung der iranischen Uran-Anreicherungsanlage von Natans war nur eine ihrer vielen Aktionen. Allein für Cyberwar standen der NSA letztes Jahr 4,7 Milliarden Dollar zur Verfügung. Andererseits sind auch die USA sehr empfindlich für Cyber-Anschläge aus China, das dabei überaus große Erfolge erzielen konnte.

Mit „ein paar hunderttausend Dokumenten der NSA“ floh Snowden am 20. Mai 2013 nach Hongkong, das ihm gewissen Schutz vor einer Auslieferung bot – doch ein Risiko blieb. Schließlich gewährte Rußland ihm ein Bleiberecht für zwölf Monate. Ob und was Snowden dort den Geheimdiensten veriet, kann der Leser dem Buch leider nicht entnehmen.

Marcel Rosenbach, Holger Stark: Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung. DVA/Spiegel-Verlag, München 2014, gebunden, 383 Seiten, 19,99 Euro

Foto: NSA-Hauptquartier in Fort Meade, Maryland: Schäden von historischem Ausmaß

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