© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Persönlichkeitsrechte im Internet
Schutzpflicht des Staates
Karl Albrecht Schachtschneider

Das World Wide Web ist nicht nur eine Einrichtung schneller und weitgehend kostenloser, hilfreicher oder auch irreführender Information, grenzenlosen, aber auch entgrenzten Diskurses und fachlicher oder sozialer Kommunikation. Es ist auch ein Platz der Beleidigung, üblen Nachrede und Verleumdung. Einträge aus fernen Ländern, die keine Pflicht zum Impressum kennen, und nicht identifizierbarer Autoren machen das Netz zum rufmordenden Pranger.

Der Schutz der Persönlichkeit im Internet ist unterentwickelt, obwohl die Persönlichkeit des Menschen höchsten Rang in der Werteordnung des Rechts hat. Sie ist durch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Artikel 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde geschützt. Dieses Fundamentalprinzip der Verfassung begründet nach Satz 2 des Artikel 1 Absatz 1 GG die „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, es „zu achten und zu schützen“. Die Menschenwürde darf nicht um irgend­einer Politik willen gegen andere Verfassungsprinzipien abgewogen werden.

Dennoch ist der Rechtsschutz der Persönlichkeit unzulänglich, jedenfalls gegen Verletzungen im Internet, im übrigen auch, wenn auch nicht im gleichen Maße, gegenüber den sonstigen Medien. Die gesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, welches das Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet hat, leistet bei weitem noch nicht den effektiven Schutz der Persönlichkeit.

Der Schutz personenbezogener Daten gegen unzulässige Nutzung zu öffentlichen und privaten Zwecken soll hier nicht Thema sein. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte gegen deren Verletzungen im Internet hat eine besondere Regelung in § 35 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) gefunden, aber auch die allgemeinen Vorschriften des bürgerlichrechtlichen Deliktsrechts (§§ 823 Abs. 1 und 2, 824, 826, 1004 BGB) und des Strafrechts (§§ 185 ff. StGB) finden auf Persönlichkeitsverletzungen Anwendung. Das Deliktsrecht gibt Schadensersatz-, Widerrufsrechts- und Unterlassungsansprüche gegen den Schädiger oder Störer, aber nach § 253 BGB auch einen Anspruch auf immateriellen Schadensersatz (Schmerzensgeld). Der Strafanspruch muß, wenn nicht ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, im Privatklageverfahren gegen den Täter durchgesetzt werden. § 35 BDSG begründet je nach den verschiedenen Tatbeständen Berichtigungs-, Sperrungs- und Löschungsansprüche gegen die „verantwortliche Stelle“, deren Beweislastregelungen differenziert sind.

All diese Ansprüche sind unzureichend, um sich gegen die Persönlichkeitsverletzung im Netz wirksam wehren zu können, vor allem weil sie repressiv sind. Sie können nur in einem Gerichtsverfahren durchgesetzt werden. Das Gerichtsverfahren dauert; selbst Eil­entscheidungen kommen gewöhnlich zu spät, um den Schaden zu verhindern oder auch nur zu mindern. Das Internet ist zu schnell. In kürzester Zeit ist der verletzende Eintrag weltweit verbreitet und kann jederzeit erneut weiterverbreitet werden. Die Suchmaschinen lassen die Verbreitung explodieren. Vor allem Diffamierung, Verhetzung, Rufmord werden bevorzugt aufgegriffen und vielfach auch aus politischen Gründen weit und schnell gestreut.

Zwei Urteile der letzten Zeit lassen aufmerken: Der Bundesgerichtshof stellte im Mai vergangenen Jahres klar, daß Google für die automatische Vervollständigung von Suchbegriffen verantwortlich ist. Das Gericht verwarf die Argumentation des Suchmaschinenbetreibers, der Algorithmus spiegele lediglich das Suchverhalten der Nutzer wider. Im konkreten Fall hatte ein Unternehmer aus Speyer geklagt, weil bei Eingabe seines Namens in die Suchmaske automatisch die rufschädigenden Begriffe „Scientology“ und „Betrug“ vorgeschlagen wurden. Das Gericht befand: Die, im übrigen wahrheitswidrigen, Vorschläge von Google verletzten das allgemeine Persönlichkeitsrecht, und die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts sei Google „unmittelbar zuzurechnen“ (Aktenzeichen: VI ZR 269/12).

Der Rechtsschutz der Persönlichkeit ist bislang nicht effektiv gestaltet, weil das Bundesverfassungsgericht die Persönlichkeitsrechte trotz ihres hohen Ranges zugunsten der Meinungsfreiheit relativiert. Durchaus zu Recht.

Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) läßt keinen Zweifel an der Verantwortlichkeit von Suchmaschinenbetreibern für die von ihnen verarbeiteten und verbreiteten personenbezogenen Daten (siehe Seite 2). Google, Bing und andere Suchmaschinenbetreiber können unter Umständen verpflichtet werden, Links zu persönlichen Daten aus der Ergebnisliste zu löschen. Das Urteil des EuGH von Dienstag vergangener Woche (Rechtssache C-131/12) stärkt die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten und führt ein gewisses „Recht auf Vergessen“ ein.

Die Urteile gehen in die richtige Richtung. Aber auch dieser Rechtsschutz genügt noch in keiner Weise dem rechtsstaatlich gebotenen effektiven Schutz der Grundrechte, zumal des menschenwürderangigen Persönlichkeitsrechts. Er kommt regelmäßig zu spät, der Schaden ist bereits eingetreten. Es müssen wirksame Instrumente geschaffen werden, wenn der Staat seiner Schutzpflicht gerecht werden will.

Wer im Internet in seiner Persönlichkeit angegriffen wird, befindet sich in einer klassischen Notwehrlage. Ihm steht das Recht zu, selbst den „gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich abzuwehren“. So formuliert das Paragraph 227 BGB. Grund des Notwehrprinzips ist, daß der staatliche Rechtsschutz nicht hilft, weil er aus der Natur der Sache nicht rechtzeitig sein kann. Das staatliche Gewaltmonopol muß sich deswegen Einschränkungen gefallen lassen. Persönlichkeitsverletzungen sind schwere Rechtsverletzungen. Aber gegen Einträge im Netz kann man sich nicht selbst wehren, solange man keine technische Handhabe hat. Diese muß aus Verfassungsgründen geschaffen werden.

Der Rechtsschutz der Persönlichkeit ist bislang nicht effektiv gestaltet, weil das Bundesverfassungsgericht die Persönlichkeitsrechte trotz ihres hohen Ranges zugunsten der Meinungsfreiheit relativiert. Auch dieser wird als Materialisierung der Menschenwürde und als konstitutionellem Prinzip der Demokratie höchster Rang zugemessen, durchaus zu Recht. Ohne geschützte Redefreiheit findet ein freiheitliches Gemeinwesen keine Wirklichkeit. Gerade deswegen werden ja die Bürger, die einen Beitrag leisten wollen, der nicht allen, zumal nicht der politischen Klasse, paßt, durch Angriffe auf ihre Ehre diszipliniert. Das Instrument ist die Political Correctness, die die Redefreiheit in Deutschland wieder einmal knebelt. Die Meinungen werden durch Leitmedien gleichgeschaltet. Das erfolgreichste Mittel ist der Rufmord an Bürgern, die es wagen, abweichende Meinungen zu äußern. Sie werden, wenn es milde ist, als populistisch, sonst aber als „rechts“, „rassistisch“, „nazistisch“ beschimpft, vielleicht auch einmal „linksextrem“, in Deutschland fast schon eine Belobigung. Das schüchtert ein. Dieser Moralismus vergiftet die politische Willensbildung des Volkes, die für die Demokratie essentiell ist.

Das Bundesverfassungsgericht praktiziert wegen eines gleichen Ranges des grundrechtlichen Persönlichkeitsschutzes und der Meinungsfreiheit eine Abwägung des gegenläufigen Grundrechtsschutzes, um Entscheidungen im Einzelfall zu treffen und zu begründen. So schreibt es das auch den Fachgerichten vor. Es macht das Gewicht der Meinungsfreiheit von dem Wahrheitsgehalt der Äußerung abhängig. Bei bewußten Unwahrheiten gibt es keinen Grundrechtsschutz. Den Medien räumt es wegen deren öffentlicher Aufgabe einen stärkeren Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit ein, weil auch deren Fehlgriffe durch „berechtigte Interessen“ im Sinne des § 193 StGB gerechtfertigt und deswegen straflos seien, wenn sie nicht der Form nach beleidigen. Das hat in der Praxis die Medien von der Strafbarkeit der üblen Nachrede freigestellt. So müssen Journalisten den Wahrheitsgehalt von Informationen nur mit journalistischer Sorgfalt prüfen. Der einzelne Bürger ist der Gewalt der Medien fast schutzlos ausgeliefert. Aber die Rechte gegenüber den herkömmlichen Medien erfüllen gegenüber der Schutzlosigkeit im World Wide Web noch annähernd die staatliche Schutzpflicht.

Auf Antrag des Betroffenen sind die verantwortlichen Stellen strafbewehrt zu verpflichten, personenbezogene Daten zu sperren, wenn diese geeignet sind, die Persönlichkeit zu verletzen. Sie müssen jede Art von anonymen Einträgen löschen.

Die Abwägungsdoktrin ist dogmatisch fragwürdig und führt jedenfalls im Netz zur Schutzlosigkeit. Artikel 5 Absatz 2 GG schreibt vor, daß die Kommunikationsgrundrechte „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“ finden. Dieser Absatz formuliert trotz des Wortes „Schranken“ keine zur Verwirklichung anderer Grundrechte durch Gesetz oder Rechtsprechung relativierbaren Schranken, also keinen Schrankenvorbehalt, sondern formuliert eine Grenze der Meinungsäußerungsfreiheiten. Das entspricht dem sprachlich richtigen Verständnis von „Diese Rechte finden ihre Schranken ...“ Diese „Schranken“ müssen somit nicht erst vom Gesetzgeber geschaffen werden. Es ist die uralte Schranke insbesondere der Ehre: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Es gibt kein Recht, eine Meinung wider die Ehre eines anderen zu äußern. Gegen ein Grundrecht, das kein Recht zur Ehrverletzung schützt, kann logisch auch der Persönlichkeitsschutz nicht abwägend relativiert werden. Demgemäß muß dieser uneingeschränkt und effektiv verwirklicht werden.

Nur eine solche Lehre würde auch dem Freiheitsbegriff des Grundgesetzes genügen. Freiheit heißt nicht, alles tun zu dürfen, was einem beliebt, ist keine Willkürfreiheit, sondern tun zu dürfen, was anderen nicht schadet. Freiheit ist durch die Grenzen der Rechte anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und das Sittengesetz definiert, wie Artikel 2 Absatz 1 GG klarstellt. Folglich gibt es keine Freiheit der Meinungsäußerung, die es erlauben würde, die Persönlichkeit anderer zu verletzen, die erst der Gesetzgeber einschränken müßte.

Die Meinungsäußerungsfreiheit schützt nicht etwa jede Art von Äußerung, nicht, wie das Bundesverfassungsgericht vertritt, das Äußern jedweder Wertungen, Meinungen, aber Tatsachenbehauptungen nur, wenn sie notwendig sind, um eine Meinung zu sagen. Was wäre wichtiger und schützenswerter als die Äußerung von Tatsachen? Diese interessieren. Meinungen bildet sich jeder gern allein. Das Grundrecht schützt den Beitrag zur Wahrheit und Richtigkeit, Wahrheit als Theorie der Wirklichkeit, Richtigkeit als Ethos, also das Recht und die Sittlichkeit. Nur ein solches Verständnis des Meinungsbegriffs wird der politischen Funktion des Grundrechts gerecht. Andere Handlungen mögen ihren Schutz in anderen Grundrechten finden, in den Religionsgrundrechten, in der allgemeinen Handlungsfreiheit usw. Eine so verstandene Meinungsäußerungsfreiheit kann schlechterdings nicht Beleidigungen, üble Nachrede und Verleumdungen schützen.

Es sei nur kurz angemerkt: Persönlichkeitsverletzungen sind Störungen der öffentlichen Sicherheit; denn sie sind Rechtsverletzungen. Die Polizei hat aber nicht die nötigen Handhaben, um diese Störungen abzuwehren. Vor allem fehlt es ihr an Personal. Um die Mittel dafür zu beschaffen, könnten die Internet-Geschäfte von Google, Ebay, Amazon Facebook usw. spezifisch besteuert werden.

Wie kann nun die unantastbare Persönlichkeit gegen Verletzungen im Netz geschützt werden? Nötig ist erstens ein Recht des Betroffenen, auf ihn bezogene Daten, wenn er deren Veröffentlichung nicht eigens zugestimmt hat, selbst zu sperren. Auf dem Weg dahin ist das Urteil des EuGH ein erster Schritt. Um diesem Recht der Betroffenen auch praktische Relevanz zu geben, müssen die Provider geeignete technische Vorhaltungen bereitstellen. Zweitens muß die Aufsichtsbehörde auf Antrag des Betroffenen personenbezogene Daten sperren, wenn diese geeignet sind, die Persönlichkeit zu verletzen. Drittens sind die verantwortlichen Stellen, insbesondere die Provider, strafbewehrt zu verpflichten, auf Aufforderung des Betroffenen hin auf diesen bezogene Daten zu sperren. Viertens sind die Provider und die Aufsichtsbehörden zu verpflichten, jede Art von anonymen Einträgen zu löschen. Streitigkeiten um die Berechtigung der Sperrungen sind nachträglich vor den Gerichten auszutragen. Die bisher bestehenden Ansprüche insbesondere aus § 35 BDSG bleiben bestehen. Derartige Rechte würden der Schutzpflicht des Staates zum Persönlichkeitsschutz gerecht werden. Sie sind somit Verfassungspflicht.

 

Prof. Dr. iur. Karl Albrecht Schachtschneider, Jahrgang 1940, ist Ordinarius emeritus für Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er klagte zusammen mit Volkswirten gegen die Politik der Euro-Rettung. Auf dem Forum erörterte er zuletzt das Spannungsverhältnis zwischen der europäischen Integration und dem Rechtsstaat („Die EU wird übergriffig“, JF 37/13).

Foto: Viele Mosaiksteinchen ergeben ein Profil: Der Schutz der Persönlichkeitsrechte im Internet ist praktisch nicht gegeben

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