© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Die neue Unübersichtlichkeit
Europawahl: Angesichts des drohenden Verlustes von Mandaten an kleinere Parteien reagieren die Etablierten nervös
Paul Rosen

Vieles ist anders bei dieser Europawahl in Deutschland. Die großen Parteien treten mit Spitzenkandidaten an, die zumindest auf dem Papier mehr Leuten als nur den Eingeweihten der politischen Klasse bekannt sind. Zugleich verlaufen die Fronten anders als früher, als noch die Opposition gegen die Regierung focht. Derzeit bekriegen sich die CSU und CDU sowie CSU und SPD. Und durch den vom Verfassungsgericht verordneten Wegfall der Dreiprozenthürde stehen die eigentlichen Gewinner schon fest: Es werden kleine Parteien von konfessionellen und ökologischen Gruppierungen bis zur Alternative für Deutschland (AfD) sein, die den Etablierten Sitze abnehmen werden. Zehn bis zwölf, vielleicht 15 der 96 deutschen Sitze im Europaparlament könnten an kleine Parteien fallen.

Traditionell besonders anfällig für anderes Gedankengut ist die CSU-Bastion Bayern. Nicht erst, seitdem sich die Freien Wähler im Landtag festgesetzt haben. Schon in den sechziger Jahren feierte die NPD im Freistaat Wahltriumphe, in den achtziger Jahren sahnten die Republikaner im CSU-Revier groß ab und saßen vor allem dank der süddeutschen Stimmen im Europaparlament. Immer wieder war es der CSU gelungen, den rechten Rand nach kurzer Zeit wieder zurückzudrängen, da auch schon das Parteiidol Franz Josef Strauß gewarnt hatte, rechts von der CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Kraft geben.

Um Strauß’ testamentarischen Auftrag noch einmal zu erfüllen, verbog sich die seit Theo Waigel extrem europafreundliche CSU wie noch nie und machte den Euro-Kritiker Peter Gauweiler zur Wahlkampflokomotive. „Gleichzeitig für und gegen etwas zu sein, an dieser großen Kunst der CSU haben sich schon Generationen politischer Beobachter abgearbeitet“, staunte die Süddeutsche Zeitung. Gauweiler legte los. Zum CDU-Parteitag erinnerte er die große Schwesterpartei: „Europa lebt vom Wettbewerb seiner unterschiedlichen Kulturen und Arbeitsweisen und nicht von ihrer Einebnung und Gleichmacherei. Griechenland ist etwas anderes als NRW mit gutem Wetter.“ Wenig diplomatisch bezeichnete Gauweiler die EU-Kommission als „Flaschenmannschaft“ und klagte vor dem Bundesverfassungsgericht gegen alles erdenkliche Ungemach aus Brüssel.

Während die Spitzenkandidaten der großen Parteien, der Bürgerliche Jean-Claude Juncker und der Sozialdemokrat Martin Schulz, beim Fernsehduell mehr Gemeinsamkeiten statt Gegensätze zeigten, legte der CSU-Spitzenkandidat für das Straßburg-Brüsseler Parlament, Markus Ferber, richtig los. Schulz titulierte er als „Geschäftsführer der Schlepperbanden“, die afrikanische Flüchtlinge nach Europa brächten. Und als Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erneut zu Vermittlungsgesprächen in die Ukraine reiste, höhnte Ferber: „Außer Spesen nichts gewesen.“

Die Attacken auf Schulz hatte man Ferber noch durchgehen lassen, bei Steinmeier war Schluß. Die eigene Unionsführung mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze pfiff den übereifrigen CSU-Mann zurück. Der Ukraine-Konflikt, in dem das Versagen der europäischen und speziell deutschen Diplomatie mehr als deutlich wurde, ließ sich für den Wahlkampf selbst mit Ferbers Brachial-Methoden nicht mehr richtig thematisieren. Die Kriegsangst der Deutschen schwand mit jedem Tag, mit dem der Wahltermin näherrückte. Damit hätten europäische Themen wie Rettungsschirme, Sparpläne, Geldentwertung und Nullzinspolitik wieder auf den Debattenplan genommen werden können. Doch die großen Parteien scheuern diese Themen. Und die kleineren Parlamentsparteien Linke und Grüne sind im Europawahlkampf eine Fehlanzeige. Die Grünen plakatieren zwar überall fleißig, aber eine zugkräftige Kernaussage für Europa haben sie ebensowenig wie die Linke.

Das Koalitionsklima ist ohnehin vergiftet

Die Rechnungen, hatte Altkanzler Helmut Schmidt gesagt, würden erst nach der Wahl kommen, und der Blick auf die europäischen Verschuldungsstatistiken zeigt, daß Schmidt schneller recht bekommen könnte, als uns allen das lieb ist. Aber im Wahlkampf blieben die Finanzthemen tabu, und die Parteien schauten tatenlos zu, wie die EU-Kommission nacheinander Griechenland, Portugal und Irland finanziell wieder gesunden ließ.

Mehr als formale Proteste hatten die Sozialdemokraten für die bayerischen Ausfälle nicht übrig. Das verwundert nicht weiter, weil das Koalitionsklima seit der Edathy-Affäre ohnehin vergiftet ist und die beiden Fraktionen die Regierungsaufgaben nur unter Nützlichkeitsaspekten abwickeln. Außerdem ist man sich in den Berliner Parteizentralen bewußt, daß die CSU nach dem Wahltag wieder in den europafreundlichen Geleitzug einscheren wird. Große Verschiebungen zwischen den beiden Lagern werden auch nicht erwartet, und daß die FDP zu alten Ergebnissen zurückfindet, glaubt eigentlich niemand mehr.

Nur die Saat der bisher außerparlamentarischen Opposition wird aufgehen und aus dem Ergebnis eine Zäsur machten. Ob aus dem ersten Beet ein Blütenmeer wird oder die zarten Triebe schnell wieder plattgewalzt werden, muß sich allerdings noch zeigen.

Foto: Martin Schulz (l.) und Jean-Claude Juncker während einer Fernsehdiskussion: Finanzthemen blieben im Wahlkampf tabu

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