© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/14 / 16. Mai 2014

Kein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof kritisiert die Bedrohungen durch die Gesetzmäßigkeiten des Geldmarktes, glaubt aber unbeirrt an die Ideale der EU
Oliver Busch

Als der von Bundeskanzler Gerhard Schröder verspottete „Professor aus Heidelberg“ ist Paul Kirchhof im Wahlkampf 2005 bekannter geworden als während seiner zwölfjährigen Amtszeit als Verfassungsrichter in Karlsruhe. Schröders Schmähung, die auf das von Angela Merkel kurzzeitig favorisierte Steuermodell des Juristen zielte, haftet dem Präsidenten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften in Heidelberg noch heute an. Und das Odium des weltfremden Akademikers war leicht zu vitalisieren, als 2011 die von ihm erfundene GEZ-„Reform“ als modernisierte Salzsteuer in die Kritik geriet.

Auch die jüngste seiner zahlreichen publizistischen Interventionen, die den „Verlust des Rechts als Gefahr für Europa“ thematisiert (Politische Studien, Heft 454-2014), wirkt eigentümlich entrückt. Zwar beschreibt der einstige Verfassungsrichter die gegenwärtigen Verwerfungen in der EU mit notarieller Akkuratesse. Er sieht, daß die „Gesetzmäßigkeiten des Geldmarktes“ die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten bedrohen, da deren „Akteure“ auf die Staatshaushalte zugreifen. „Banken, Versicherungen, Fonds, Anleger und Spekulanten“ lassen die EU als „Rechtsgemeinschaft“, als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ daher inzwischen als pure Fiktion und Brüsseler Ideologie erscheinen.

Das Prinzip des Shareholder Value, dem diese angeblich in der „Anonymität des Marktes“ verborgenen „Mächtigkeiten“ gehorchen, kenne keine anderen Werte als Geld, sei gleichgültig gegenüber Arbeitnehmern, Umwelt oder dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ob das EU-Krisenmanagement mit seiner Hauptwaffe, der Europäischen Zentralbank (EZB), diesen Herausforderungen gewachsen ist, beurteilt Kirchhof skeptisch. „Rettungsschirme“ und die EZB-Strategie des „billigen Geldes“ ermunterten die Geldmächte nur, wackelnde Forderungen den Staaten aufzudrängen. Die Zinslasten würden gesenkt, die Staatsschulden aber kreditfinanziert erhöht. Die Finanzlasten wandern von den Staaten zu Rettungsfonds und EZB, und private Geldgeber rücken in die Stellung von Gläubigerstaaten ein. Bezahlt werde dies vom Steuerzahler und Sparer.

Lösungsvorschlag offenbart akademischen Idealismus

Mittlerweile stelle sich die „dramatische Frage“, „ob wir diese Ausgleichszahlungen neben und gegen das EU-Recht als Übergangsphänomen organisieren und begrenzen können“, oder ob „das System fremdfinanzierter Finanzschwäche die Union insgesamt gefährdet, ob kreditfinanzierte Finanzhilfen in der Unmerklichkeit ihrer Last die demokratische Kontrolle außer Kraft und immer mehr politische Macht auf den Finanzmarkt übertragen“.

Bis hierhin dürfte diese Krisenanalyse den Beifall aller deutschen EU-Kritiker, von Sahra Wagenknecht bis Peter Gauweiler, finden. Darüber hinaus dürften sich zumindest marxistisch getrimmte linke wie rechte Kenner der politischen Ökonomie aber wundern über die vielen blinden Flecken in Kirchhofs Darlegungen, aus denen wohl auch der akademische Idealismus seiner Lösungsvorschläge resultiert. Nach wie vor glaubt er: „Unsere Ideale einer Europäischen Union sind nicht widerlegt und nicht verbraucht.“ Daher lautet seine Parole: Mitten in der Krise „brauchen wir die EU als Rechtsgemeinschaft mehr denn je“. Durch „die Wiederherstellung des Rechts“ könne die EU ihren „Charakter als Rechtsgemeinschaft“ zurückgewinnen.

Man braucht nicht auf Karl Marx zurückgreifen, es genügt ein Blick auf die sich vor 1914 formierende Interessenjurisprudenz oder auf die gleichaltrige Rechtssoziologie, um zu wissen, daß es – laut Bonmot des schottischen Moralphilosophen Alasdair MacIntyre – „das“ Recht so wenig gibt wie „Hexen oder Menschenrechte“. Recht ist vielmehr eine Funktion von Gesellschaft. Das Recht, das „den Finanzmarkt“ zum Herrscher über Staaten macht, ist darum auch nicht in der Hand anonymer Mächte, wie Kirchhof fabuliert, sondern ist Spielregel eines konkreten Gesellschaftsmodells, des plutokratischen US-Systems, dessen „Maßlosigkeit“ der erschrockene Kirchhof zwar beklagt, aber das er nicht einmal beim Namen zu nennen wagt.

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