© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/14 / 16. Mai 2014

Die Frucht ist verfault
Joachim Gauck: Der Bundespräsident will mit den herrschenden Strukturen nicht in Konflikt geraten
Thorsten Hinz

Wenige Tage bevor Bundespräsident Joachim Gauck zum Staatsbesuch nach Prag reiste, waren im böhmischen Hermannseifen die sterblichen Überreste mutmaßlich ermordeter Sudetendeutscher gefunden worden. Es war nicht das erste Massengrab dieser Art und wohl auch nicht das letzte. Der Fund gemahnte an einen Skandal: Die Morde fallen bis heute unter die in den Benesch-Dekreten verkündete Amnestie. Ungerührt davon pries Gauck die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien als vom „Geiste der Verständigung und Versöhnung“ und vom Willen bestimmt, „die Geschichte als eine gemeinsame fortzuschreiben“. Etwas anderes als zwischen Treuherzigkeit und Ignoranz changierendes Politikerdeutsch hatte auch niemand von ihm erwartet.

Bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren war das noch anders gewesen. Damals trauten viele ihm zu (darunter auch diese Zeitung, JF 9/12), neue Standards und Maßstäbe zu setzen. Sein Freiheitspathos, seine Reden über Mut und Bürgersinn mochten aus der Zeit gefallen sein, aber seine Persönlichkeit schien ihnen Substanz zu verleihen. Gauck umgab der Nimbus des untypischen, des Nichtpolitikers, des in der Diktatur gestählten Protestanten, der für seine Haltung einsteht. Seine Moralität, glaubte man, könne zu einem politischen Faktor werden. Gauck, lautete die Hoffnung, würde sich als ein Präsident der Bürger erweisen, als vernehmbare Stimme des Volkes, als Korrektiv zum Parteien- und Verbändestaat, zur politisch-medialen Klasse: durch gelegentliche, intelligent plazierte und diplomatisch verpackte Interventionen und Verweise auf die Lebenswirklichkeit, die von der Politik und den Medien ignoriert, zerstückelt, tabuisiert, beschwiegen oder verfälscht wird.

Eine zweite Erwartung richtete sich auf seine Außenwirkung. Vielleicht würde er eine Formel finden, mit der er die moralischen Erpressungen, in die befreundete und weniger befreundete Staaten ihre materiellen Ansprüche an Deutschland kleiden, mit freundlicher Bestimmtheit zurückweisen würde. Da in der DDR über historische Schuld viel weniger geredet, an den Schuldzuschreibungen aber um so schwerer getragen wurde, schien Joachim Gauck für diese Rolle prädestiniert zu sein.

Einige spontane Einlassungen kamen solchen Erwartungen entgegen. Die Kanzlerin forderte er auf, die Euro-Krise besser zu erklären. Ihre Schnapsidee, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson, konterte er mit der Aussage, er möchte sich nicht die möglichen Konsequenzen vorstellen. Er relativierte den Satz seines Vorgängers, der Islam gehöre zu Deutschland und äußerte sich kritisch zum grassierenden „Tugendfuror“. Doch solche luziden Momente blieben Ausnahmen, es formte sich keine präsidiale Botschaft daraus.

Beherrschend wurde die gegenläufige Tendenz, die sich bereits in seiner Antrittsrede angedeutet hatte. Er hatte Defizite in der Vergangenheitsbewältigung moniert und dann behauptet: „Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert.“ Den Höhepunkt der Rede bildete eine regelrechte Kampfansage: „Euer Haß ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich.“ Nur richtete Gaucks Entschlossenheit sich weder gegen die internationale Finanzindustrie noch gegen die multinationalen Konzerne und Global-Planierer, denen es mit der Abschaffung der Nationalstaaten gar nicht schnell genug gehen kann, sondern an die ohnehin marginalisierten „rechtsextremen Verächter unserer Demokratie“. Hätte er sie als das Gestalt gewordene Defizit der real existierenden Demokratie beschrieben, wäre ihm wenigstens eine halbwegs originelle Denkfigur gelungen. So aber beschlich viele, die sich über seine Wahl gefreut hatten, die Ahnung, daß hinter seinem Pathos ein analytisches und Wahrnehmungsdefizit klaffte.

Die Ahnung wurde bald zur Gewißheit. In seiner Weihnachtsansprache 2012 sagte er: „Sorge bereitet uns auch die Gewalt: in U-Bahnhöfen oder auf Straßen, wo Menschen auch deshalb angegriffen werden, weil sie schwarze Haare und eine dunkle Haut haben.“ Die Übung des Kopftretens, die Jugendliche aus bestimmten Zuwanderergruppen gegen deutsche „Kartoffeln“ anwenden, verschweigt er. Anläßlich der Armutszuwanderung empfahl er den Deutschen, ihre „Herzen zu öffnen“ und begab sich damit unwissentlich in die Nähe des Kabarettisten Dieter Hildebrandt, der bei seinem einzigen Auftritt in der DDR gespottet hatte: „Wir öffnen dem Staat unsere Herzen, er öffnet unsere Briefe.“

Entschieden verteidigt er die Privilegien der politischen Klasse: „Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen.“ Er ignoriert, daß der versammelte Sachverstand des Demos Fehlentscheidungen wie die Euro-Einführung niemals zugelassen hätte. Logischerweise belegt er die Alternative für Deutschland (AfD) für ihren zahmen Widerspruch mit dem Kampfbegriff „Populisten“.

Auf Auslandsreisen hat er die Schuld- und Bußrituale in neue Höhen geschraubt. Während des Besuchs in Griechenland aktualisierte er den von dem Publizisten Ralph Giordano eingeführten Irrsinnsbegriff und sprach von einer „zweiten Schuld“ der Deutschen. Mit solchen Auftritten konterkariert er übrigens die jahrzehntelange Europa-Politik der Bundesrepublik. Was ist die europäische Integration denn in Wirklichkeit wert, wenn sie 70 Jahre nach Kriegsende solche Rituale nötig hat? Wie dem auch sei, Gaucks Nimbus ist zerbrochen, und seine Präsidentschaft stellt sich als eine Frucht heraus, die verfault ist, ohne jemals reif geworden zu sein.

Natürlich unterliegt er den Zwängen des Amtes und muß er beachten, daß seine beiden Vorgänger letztlich wegen Unbotmäßigkeit bei der Euro-Rettung aus dem Amt gemobbt wurden. Dabei geraten Gauck seine Stärken zur Schwäche. Zu den Stärken gehörte die direkte Ansprache, der pastorale, befeuernde Appell, in den sich nun, da er selber als Vertreter des Apparats und der Macht agiert, ein unangenehm belehrender Unterton eingeschlichen hat.

Im vergangenen Jahr sind zwei Bücher erschienen, die Aufschluß über seine Motive und seinen Werdegang geben: Eine Biographie des Journalisten Mario Frank und eine linke Anti-Gauck-Streitschrift aus dem Berolina-Verlag, die in der Tendenz indiskutabel ist, aber manche interessante Details enthält.

Der Biograph Frank ist Gauck näher gekommen als jeder andere vor ihm. Er stellt klar, daß der Präsident in der DDR ein ehrenwertes und widerständiges Leben geführt hat. Gerüchte über Angepaßtheit oder heimliche Kollaboration sind bösartiger Unsinn. Mit Vorsatz hatte Gauck sich als Pfarrer in eine Rostocker Plattenbausiedlung – eine atheistische Wüste – versetzen lassen. Er verstand sich nicht primär als politischer Oppositioneller, sondern als Pfarrer und Seelsorger. Allerdings hatte ihn die Deportation seines Vaters durch die Sowjets zum entschiedenen Antikommunisten gemacht. Im Ergebnis stand er, weil er als Christ den Totalanspruch des Staates zurückwies, in politischer Opposition zu ihm. Er bewies eine Willensstärke und Härte, die man bewundern muß. Zugleich fragt man sich, ob er nicht die Grenze des Zumutbaren überschritten hat. Seine Familie jedenfalls fühlte sich überfordert und zerbrach daran.

Auch Gauck blieb nicht unbeschädigt vom Druck, der auf ihm lastete. So erklärte er nach der Wende 1989 einem Stasi-Offizier, er werde sein ganzes Leben damit zubringen müssen, seine Schuld abzutragen, und noch seine Enkel würden daran zu tragen haben. Es war gewiß nicht nur die reine Wahrheitsliebe, die seine Tätigkeit als Chef der Stasi-Unterlagenbehörde bestimmte. Sie verschaffte ihm den Aufstieg ins bundesdeutsche Establishment, was seine unbestreitbare Eitelkeit befriedigte. Er war die wortgewaltige Galionsfigur der Behörde, während die Geschäfte von westdeutschen Mitarbeitern bestimmt wurden. Die Gauck-Behörde hatte „den Sonderauftrag, die DDR zu delegitimieren“, die westdeutsche Seite aber aus dem Blick zu nehmen. Sie förderte eine „selektive Geschichtsschreibung“, kritisierte 2005 der Willy-Brandt-Kreis, dem unter anderem Egon Bahr und der Historiker Peter Brandt angehören. Im Lichte solcher Mitteilungen schrumpft Gaucks politisches Format ganz gewaltig.

Seit einigen Jahren, schreibt Frank, betrachtet der jetzt 74jährige Gauck sein Leben als „Erntedankfest“. Es ist leicht nachvollziehbar, daß er sich in seinem Einverständnis und Behagen nicht mehr stören lassen und mit herrschenden Strukturen erneut in Konflikt geraten will. Politisch, geistig und lebensgeschichtlich vom Dualismus des Kalten Krieges absorbiert, ist er zu kritischer Distanz gar nicht mehr fähig.

Mario Frank: Gauck. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, gebunden, 414 Seiten, 19,95 Euro

Karl Blessing / Manfred Manteuffel: Joachim Gauck. Der richtige Mann? Edition Berolina, Berlin 2013, kartoniert, 192 Seiten, 9,99 Euro

Foto: Bundespräsident Gauck am 5. Mai bei seinem Besuch in Tschechien: Zwischen Treuherzigkeit und Ignoranz changierendes Politikerdeutsch

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