© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/14 / 16. Mai 2014

Rote Roben in Fesseln
Grundgesetz: In Berlin werden Pläne diskutiert, die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes einzuschränken
Gerhard Vierfuss

In Berlin häufen sich Berichte, nach denen vor allem in Kreisen der Union überlegt wird, die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes zu beschneiden. Die Überlegungen sind im Zusammenhang mit der teilweise massiven Kritik zu sehen, die das Gericht für seine jüngsten Urteile zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) und zur Dreiprozenthürde bei den Europawahlen aus den Reihen der Koalition erhielt. Tenor: Karlsruhe überdehne seine Kompetenzen.

Kritik an den Entscheidungen des Verfassungsgerichts hat es immer gegeben; sie ist eine geradezu zwangsläufige Folge von dessen Stellung innerhalb der Verfassungsordnung. Einerseits steht es als höchstes deutsches Gericht zwar nicht formal, aber tatsächlich über den Obersten Gerichtshöfen des Bundes, gegen deren letztinstanzliche Entscheidungen es mit der Verfassungsbeschwerde angerufen werden kann. Anderseits gehört es neben dem Bundestag, dem Bundesrat, dem Bundespräsidenten und der Bundesregierung zu den Verfassungsorganen und hat als solches die letzte Entscheidungsgewalt bei Streitigkeiten der anderen Organe untereinander sowie über die Auslegung von Gesetzen. Gerade in diesem letzten Punkt hängt es in hohem Maß von der Sensibilität der Karlsruher Richter ab, ob die prekäre Machtbalance zwischen der ersten Gewalt, dem Gesetzgeber, und der sie kontrollierenden dritten Gewalt erhalten bleibt.

Kritiker sehen Balance gestört

Zahlreiche namhafte Kritiker sehen diese Balance inzwischen als gestört an. Denn den genannten europarechtlichen Entscheidungen waren in den vergangenen Jahren mehrere andere Verfahren vorangegangen, in denen das Verfassungsgericht gesetzliche Regelungen für verfassungswidrig erklärte: Zu denken ist etwa an die ganze Kette von Entscheidungen, in denen es dem Gesetzgeber auferlegt hat, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft immer stärker an die Ehe anzugleichen. Doch so scharf die Kritik auch ausfiel – die Entscheidungen standen in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist und fanden dementsprechend auch im politischen Berlin starke Befürworter.

Das ist bei den Urteilen zur EZB und zum Europawahlrecht nicht der Fall. Hier widersetzte sich das Gericht dem herrschenden Trend, in EU-Fragen fünf gerade sein zu lassen: nämlich im ersten Fall über die offensichtliche Verletzung der europäischen Verträge hinwegzusehen – und im zweiten die ebenso offensichtlichen Unterschiede des Europäischen von einem echten Parlament zu ignorieren. Entsprechend massiv fiel die öffentliche Kritik an den Entscheidungen aus. Und auch aus den eigenen Reihen kam Kritik. Das Minderheitsvotum der Richterin Gertrude Lübbe-Wolff zum EZB-Urteil beginnt mit den Sätzen: „In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten. Das ist meiner Meinung nach hier geschehen.“

Die Gelegenheit, dem Gericht Fesseln anzulegen, ist in Zeiten der Großen Koalition mit ihrer breiten Parlamentsmehrheit günstig wie selten. Der geringfügigste Einschnitt bestände darin, das Verfahren der Richterwahl zu ändern. Artikel 94 des Grundgesetzes bestimmt, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichtes zu gleichen Teilen von Bundestag und Bundesrat gewählt werden; Paragraph 6 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes legt fest, daß der Bundestag seine Wahl indirekt, nämlich über einen aus zwölf Mitgliedern bestehenden Wahlausschuß durchführt.

Drohende Politisierung des Gerichts

Ein Vorschlag zielt nun darauf, den Wahlausschuß abzuschaffen und die Richter vom Plenum des Bundestages wählen zu lassen. Dagegen ist wenig einzuwenden: Die Wahl würde transparenter; das Verfahren näherte sich wieder der im Grundgesetz intendierten Regelung an. Kritiker befürchten allerdings, eine solche Änderung wäre nur der erste Schritt hin zu einem Verfahren, in dem die Kandidaten sich vor der Wahl einer öffentlichen Anhörung stellen müßten; das könne zu einer stärkeren Politisierung des Gerichts führen.

Sehr viel weiter geht der Vorschlag, das erforderliche Quorum für die Verwerfung von Gesetzen auf zwei Drittel zu erhöhen, so daß mindestens sechs der acht Richter eines Senats des Verfassungsgerichtes eine solche Entscheidung tragen müßten. Auch eine solche Regelung ließe sich ohne Änderung des Grundgesetzes treffen und aus dem Gedanken eines Vorrangs des Parlaments als des Vertreters des Souveräns rechtfertigen.

Das schärfste Schwert wäre eine Änderung des Grundgesetzartikels 23, der die Mitwirkung Deutschlands in der EU regelt. Denkbar ist die Einfügung einer Vorschrift, die dem Europäischen Gerichtshof die ausschließliche Kompetenz zur Entscheidung sämtlicher das europäische Recht oder europäische Institutionen berührender Streitfälle zuweist. Damit wäre das Bundesverfassungsgericht als Schutz- und Kontrollinstanz auf europäischer Ebene ausgehebelt. Aber man darf sicher sein, daß es sich nicht nehmen lassen würde, zuvor noch über die Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit dem Wesensgehalt des Grundgesetzes zu entscheiden.

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