© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Imperien besteh’n, Imperien vergeh’n
Ein zweibändiges Werk setzt sich mit dem Phänomen weltgeschichtlicher Großreiche mit imperialer Strahlkraft auseinander
Wolfgang Kaufmann

Lange Zeit sah es nicht so aus – aber in der dogmatisch erstarrten Geschichtswissenschaft der deutschsprachigen Länder sind offenbar doch noch Zeichen und Wunder möglich: Nach den bleiernen, ebenso end- wie fruchtlosen Jahren der Vorherrschaft der Struktur- und Alltagsgeschichte, in denen sich die Historiker immer mehr auf neumodische Banalitäten kaprizierten, erfolgt jetzt eine unübersehbare Rückbesinnung auf traditionelle Schwerpunkte wie Politik- und Ereignisgeschichte beziehungsweise Geschichte von Staaten und Reichen.

Darüber hinaus wird nun ebenfalls ohne jede Umschweife konzediert, daß diese Geschichte fast ausnahmslos von „großen Männern“ gemacht worden sei: diese hätten die Imperien und Hegemonialordnungen begründet und auch wieder zu Fall gebracht, was Frauen hier zur Quantité négligeable stempele. Und das alles geschieht nicht etwa im historiographischen „Untergrund“, praktiziert von Parias, die des Mainstream-Unsinns schon des längeren überdrüssig waren und deshalb von der Fachwelt ignoriert wurden (JF 7/12), sondern auch und gerade im universitären Bereich.

Über die Motive für diesen Paradigmenwechsel – denn um nichts anderes als einen solchen handelt es sich hier – erfuhr man bisher kaum etwas Explizites, doch jetzt ist ein voluminöses Werk erschienen, in dem einigermaßen Klartext gesprochen wird. Die Rede ist von „Imperien und Reiche in der Weltgeschichte“, entstanden im Nachgang zu einer gleichnamigen Tagung im April/Mai 2010 und zusammengestellt von Wissenschaftlern der Universitäten Hildesheim und Innsbruck.

Deren Ziel war es erklärtermaßen, eine „Renaissance der Geschichte der großen Mächte“ einzuleiten, was der Mitherausgeber Michael Gehler mit folgenden weltpolitischen Veränderungen beziehungsweise Herausforderungen der letzten 25 Jahre begründet: dem Ende des Kalten Krieges (1989/90) und dem damit einhergehenden Zusammenbruch der Sowjetunion (1991), der Nato-Osterweiterung (1999–2004), der zunehmenden Überforderung der Weltmacht USA insbesondere nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001, der EU-Osterweiterung sowie auch den Krisen der Europäischen Union (ab 2004), dem Aufstieg neuer Großmächte wie China und Indien, dem Neuaufleben der imperialen Ambitionen Rußlands unter Wladimir Putin (ab 2000) sowie den Änderungen der globalen Konstellationen infolge der Finanzkrise ab 2008. Mit anderen Worten: Einerseits könne man aus den Ereignissen dieses Vierteljahrhunderts ersehen, wie fragil Imperien oder Großreiche oft seien, anderseits gebe es momentan aber auch noch multinationale Machtgebilde mit offener Zukunft, was nach Expertisen seitens der Historikerzunft rufe.

Verbreitung einer Heilslehre mit universellem Anspruch

Also werden in dem zweibändigen Monumentalwerk auf 1.700 Seiten 58 Imperien, Großreiche und Hegemonialmächte aller Epochen der Vergangenheit und sämtlicher Regionen der Welt vorgestellt, beginnend mit dem ersten quellenmäßig faßbaren Imperium der Geschichte, dem 180 Jahre lang existierenden Reich, das Sargon von Akkad im 3. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien und Syrien geschaffen hatte, und endend mit noch bestehenden politischen Gebilden wie der Europäischen Union. Das ist durchaus beeindruckend, andererseits gibt es aber trotzdem einige wesentliche Desiderate, denn die islamischen Großreiche Irans und Zentralasiens fehlen in der Darstellung ebenso wie der Staat der Elamiter oder das Imperium der Inka in Südamerika. Dabei suchten die 60 Autoren aus 14 Ländern, welche Beiträge für den Band lieferten, im Zuge der Neuorientierung der Geschichtswissenschaft vor allem Antworten auf zwei Fragen.

Die erste lautet, was ein Imperium denn nun tatsächlich genau sei. Bei ihrer Beantwortung kamen die Historiker bis vor kurzem noch zu wenig hilfreichen Zirkelschlüssen: Einzelne Reiche wie das Imperium Romanum wurden kurzerhand zu „Imperien“ sui generis erklärt, wonach deren Merkmale dann als Fix- und Referenzpunkte dienten, um weitere „Imperien“ zu identifizieren. Dieser methodische Lapsus war dabei einer verbreiteten Scheu vor der Imperialgeschichte in den einstmals „imperialistischen“ Staaten des Westens geschuldet. Mittlerweile indes haben der Politikwissenschaftler Herfried Münkler und der Globalhistoriker Hans-Heinrich Nolte aber entscheidende theoretische Anstöße gegeben, auf deren Grundlage die folgende allgemeingültige und nicht mehr ausschließlich negativ aufgeladene Definition entstand, welche in „Imperien und Reiche in der Weltgeschichte“ zum Einsatz kommt:

Obwohl Imperien sehr unterschiedliche politische Gebilde darstellen, weil sie an keine spezifische Staatsform gebunden sind – die Bandbreite reicht hier vom hochzentralisierten und durchbürokratisierten chinesischen Kaiserreich bis zum korporativ verfaßten Staatswesen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – gibt es einige entscheidende Gemeinsamkeiten.

So entspringen Imperien im Gegensatz zu Nationalstaaten keinem formellen Gründungsakt und zumindest zu Beginn auch keiner absichtsvollen Planung. Imperien entstehen sowohl durch den Einsatz militärischer Mittel als auch durch eine Vorreiterrolle auf den Gebieten Wirtschaft, Handel und Kultur; letztlich kann also nur die Großmacht ein Imperium sein, welche den Lauf der Weltgeschichte maßgeblich mitbestimmt. Die Außengrenzen eines Imperiums lassen sich relativ schlecht definieren, denn sie oszillieren auf eine recht dynamische Weise. Imperien sind zudem multiethnisch und multireligiös strukturiert, entwickeln aber dennoch ein grenzenloses Sendungsbewußtsein, das sich in dem Bemühen zeigt, eine ganz spezielle Heilslehre mit universellem Anspruch zu verbreiten. Und die Führungsschicht in einem Imperium steht unter erheblichem Erwartungsdruck seitens ihrer Untertanen, was die Sicherung von Wohlstand und Frieden betrifft.

Auf der Basis dieser Definition, welche also nicht mehr nur eine Zustandsbeschreibung des Römischen Reiches oder anderer „typischer“ Imperien ist, gelang eine sichere Unterscheidung zwischen bloßen Großreichen wie dem Maurya-Staat in Nordindien (4.–2. Jahrhundert v. Chr.) oder dem schwedischen Ostsee-Reich (1561–1720) und echten Imperien vom Schlage Altägyptens, Urartus, Makedoniens, Roms, Byzanz’, Spaniens, Großbritanniens und so weiter.

Territoriale Überdehnungen erwiesen sich oft als tödlich

Die zweite wichtige Frage, der in den beiden Bänden nachgegangen wird, ist die nach den Ursachen dafür, daß Hegemonialmächte und Imperien irgendwann zugrundegehen. Hierzu werden folgende Antworten geliefert: Imperien kollabierten oftmals aufgrund von Aufständen oder Zwistigkeiten innerhalb der herrschenden Dynastie. Des weiteren sprengten vielfach auch die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Regionen das Imperium als Ganzes. Ebenso erwiesen sich territoriale Überdehnungen als tödlich. Diesen inneren Faktoren standen äußere Bedingungen gegenüber wie die Existenz anderer, feindlicher Imperien, die sich dann auch in finalen militärischen Konflikten durchsetzten. Hingegen spielten die neuerdings immer wieder beschworenen Umweltfaktoren offenbar überhaupt keine Rolle. Dafür zeigt sich in etwa der Hälfte der Fälle noch ein weiterer veritabler Untergangsgrund, nämlich das Eindringen hochmobiler Fremdvölker, das man nicht stoppen wollte oder konnte. So brach schon das zweite Imperium der Weltgeschichte, das Reich von Ur, um 2000 v. Chr. herum unter dem unkontrollierten Zustrom von Nomaden zusammen.

Vielleicht kommt es demnächst auch noch zu einem weiteren Paradigmenwechsel weg von den „weichgespülten“ Theorien, daß Imperien wie das Imperium Romanum nicht durch den Massenansturm von Fremdvölkern untergegangen seien, sondern eine langsame schonende „Transformation“ erfahren hätten (JF 36/11), und hin zu der Erkenntnis, daß ein Reich zwangsläufig untergehen müsse, wenn dessen Führung zulasse, daß aggressive nichtautochthone Ethnien es von innen und außen destabilisieren.

Aber soweit ist es noch nicht. Dafür fällt die EU-Kritik unerwartet klar aus: Die Ratifikationskrise und die Schulden- beziehungsweise Eurokrise zeigen „die Grenzen der Handlungsfähigkeit und Problemlösungskapazität der EU deutlich auf. Erosion und Zerfall sind zwar (noch) nicht gegeben, aber deutliche Anzeichen der Überhöhung der globalen Ansprüche und der Überdehnung des tatsächlichen Geltungsbereichs der EU.“ Und dann folgen noch ein paar Sätze, aus denen man unschwer herauslesen kann, was die Experten für Imperien über die Zukunft der Europäischen Union denken: Der EU drohe das Scheitern, „da die jüngere Politikergeneration kaum mehr aus überzeugten Herzens-Europäern besteht“. Dabei sei doch offenkundig, wie sehr die Union „von starken europäischen Persönlichkeiten, also auch von ‘charismatischer Herrschaft’ (Max Weber) abhängig war und ist, über die sie durch die rasch wechselnden Staats- und Regierungschefs kaum mehr verfügt, was als bleibendes Strukturdefizit der EU und Versagen nationaler Politiker anzusehen ist“. Bloß gut für unsere Herrschenden, daß die meisten Bürger kaum einmal einen Blick in diese beiden aufschlußreichen Bände werfen werden, was nicht zuletzt etwas mit deren hohem Preis zu tun hat.

Michael Gehler, Robert Rollinger (Hrsg.): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, 2 Bände. Harrassowitz-Verlag, Wiesbaden 2014, geb., 1.762 Seiten, Abb., 198 Euro

Foto: Triumphzug auf einer phantastischen Paradestraße in Rom, Szene aus dem US-Monumentalfim „Ben Hur“ von 1959: Das Eindringen hochmobiler Fremdvölker sorgte bei der Hälfte der Imperien für den Untergang

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