© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Die Fieberkurve steigt
Brasilien: Vier Wochen vor Beginn der Fußball-WM erschüttert nicht nur eine Welle der Gewalt das Land, sondern auch die Furcht vor dem Dengue-Fieber
Michael Ludwig

In vier Wochen beginnt in Brasilien die Fußballweltmeisterschaft, doch die Nachrichten, die uns aus dem südamerikanischen Riesenland erreichen, sind alles andere als beruhigend.

An die nahezu täglichen Horrorbilder mit lichterloh brennenden Autos, steinewerfenden Demonstranten und Polizisten, die in ihren schwarzen Helmen und undurchdringlichen Kampfanzügen wie ferngesteuerte Roboter aussehen, haben wir uns schon gewöhnt. Nun aber schockt die Erkenntnis, daß eine viel schlimmere Gefahr drohen könnte – sie ist nicht größer als ein halber Fingernagel, kann fliegen und heißt bei den Biologen „Aedes aegypti“. Moskitos dieser Art übertragen das Dengue-Fieber, eine für den Menschen tödliche Gefahr.

Um sie nicht weiter um sich greifen zu lassen, hat sich die Regierung zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Sie wird Millionen von genmanipulierten Männchen dieser Spezies aussetzen, die dafür sorgen sollen, daß der von ihnen gezeugte Nachwuchs zugrunde geht, bevor er den Dengue-Virus weitergeben kann. Nach Angaben von Forschern haben Versuche im Inneren des Bundesstaates Bahia zu einer Verminderung der Moskitopopulation zwischen 81 und 93 Prozent geführt.

Unmut über Milliardeninvestitionen

„Alle Jahre wieder registrieren die Behörden eine wahre kollektive Hysterie, die durch eine explosionsartige Ausbreitung des Fiebers hervorgerufen wird“, schreibt der Brasilienkorrespondent der spanischen Tageszeitung El Mundo und nennt auch gleich die Symptome, die mit dieser Krankheit verbunden sind: Übelkeit, Fieber, Muskelkrämpfe. Ein Gegenmittel gibt es nicht. Nach Angaben des brasilianischen Gesundheitsministeriums liegen 321 Städte in Gebieten, die stark gefährdet sind, 725 weitere in Landstrichen, in denen eine Ansteckung nicht ausgeschlossen werden kann. Die WM-Austragungsorte Fortaleza, Natal und Salvador gehören dazu. 1,5 Millionen Menschen sind im vergangenen Jahr an dem Fieber erkrankt, 545 daran gestorben.

Die Aktion der Regierung, die in Zusammenarbeit mit dem britischen Pharmakonzern Oxitec durchgeführt werden soll, ist nicht unumstritten. Helen Wallace von der Umweltschutzorganisation GenWatch bezeichnete das Vorhaben als „nicht effektiv und gefährlich“. Es handle sich um einen „hoffnungslosen Versuch, der britischen Biotechnologie unter die Arme zu greifen und den Investoren dabei behilflich zu sein, ihr eingesetztes Risikokapital zurückzuerhalten.“

Besonders bedrückend könnte es werden, wenn die Genmanipulation zu ganz anderen Auswirkungen führt als beabsichtigt – beispielsweise zu einer Mutation von „Aedes aegypti“, die dann womöglich zu einem besonders gefährlichen und unberechenbaren Verhalten führt.

Am meisten Kopfzerbrechen bereitet den Behörden jedoch die mangelnde Sicherheit in den Austragungsstädten der Spiele und dort vor allem in Rio de Janeiro, São Paulo, Salvador und Belo Horizonte.

Der Vorsatz der Regierung, die WM ins Land zu holen, koste es, was es wolle, hat sie in der Bevölkerung viele Sympathien gekostet. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha zufolge sind 75,8 Prozent der Brasilianer der Ansicht, daß die Aufwendungen für die WM – rund zehn Milliarden Euro – unnötig hoch sind. 80 Prozent der Befragten meinen, daß das Geld besser für andere Vorhaben ausgegeben werden sollte – etwa für die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge, für öffentliche Erziehung und eine Sanierung der Massenverkehrsmittel, deren desaströser Zustand jeden Großstadtbewohner, der auf sie angewiesen ist, zu wahren Wutausbrüchen animiert.

So war es kein Wunder, daß vor einem Jahr die vorsichtige Erhöhung der Bus- und Bahntarife in São Paulo um 20 Centavos (0,07 Euro) zu gewalttätigen Protesten geführt hat. Rund 1,2 Millionen Bürger versammelten sich in der Innenstadt, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen.

Die sozialen Spannungen in der sechstgrößten Industrienation der Welt führen immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, und das in einer Gesellschaft, in der Konflikte grundsätzlich weniger im Diskurs als vielmehr mit Gewehrläufen ausgetragen werden. Die sogenannten Favelas, die Armenviertel in den Metropolen, sind ein Beispiel dafür. Dort liefern sich Polizei und Armee auf der einen Seite und organisierte Rauschgifthändlerbanden auf der anderen regelmäßig Schießereien, in deren Kreuzfeuer oft genug unbeteiligte Passanten geraten.

Die Bürgerrechtsorganisation „Rio de Paz“ (Rio des Friedens) hat dieser Tage die Mord- und Totschlagstatistik der letzten acht Jahre für den Bundesstaat Rio de Janeiro ausgewertet. Was dabei herausgekommen ist, übertraf selbst die schlimmsten Erwartungen – in diesem Zeitraum wurden 35.879 vorsätzliche Tötungen registriert, 285 Verletzungen mit Todesfolge, 1.169 Überfälle, bei denen ein Todesopfer zu beklagen war, 5.677 Tote nach Polizeieinsätzen, 155 tote Militärpolizisten und Angehörige der öffentlichen Dienste. Insgesamt also 43.165 Tote. Nicht in diese Rechnung aufgenommen sind 31.000 Verschwundene sowie 31.000 Mordversuche.

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