© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Antragsflut zur Spargelzeit
Familienkassen: Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, nach dem Saisonarbeiter Anspruch auf Kindergeld haben, verursacht hohe Kosten
Christian Schreiber

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Sommer 2012 könnte kurz vor der Europawahl noch einmal zu einem Wahlkampfthema werden. Die EU-Juristen hatten vor zwei Jahren entschieden, daß Leih- und Saisonarbeiter, die in Deutschland wohnen und ihre Steuern bezahlen, selbst dann einen Anspruch auf Kindergeld haben, wenn ihre Familie im Heimatland geblieben ist.

Geklagt hatte vor sechs Jahren der polnische Landwirt Waldemar Hudzinski. Er war für drei Monate als Saisonarbeiter nach Deutschland gekommen und hatte hier Kindergeld für seine zwei Kinder beantragt, die in Polen geblieben waren. Nachdem die deutschen Gerichte zunächst die polnischen Behörden für zuständig erklärten, wandte sich Hudzinski an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg und bekam recht. Demnach habe jeder EU-Ausländer Anspruch auf Kindergeld, sofern er in Deutschland arbeite und unbeschränkt steuerpflichtig sei, egal, wo die Kinder leben.

Wütende Antragsteller

Nachdem diese Entscheidung lange Zeit keine große Beachtung fand, wird nun mit Blick auf die Zahlen die Tragweite dieses Urteils bewußt. Ging es am Anfang um wenige hundert Euro, so könnten auf den deutschen Staat nun Kosten in Höhe von rund einer halben Milliarde zukommen. In der vergangenen Woche wandte sich die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit an die Öffentlichkeit. Die Flut der Anträge aus Osteuropa sei nicht mehr zu bewältigen, die genaue Kostenentwicklung ohnehin nicht absehbar, klagte die Behörde. „Wir haben die Auswirkungen des Urteils unterschätzt“, gestand der Leiter der Familienkasse, Torsten Brandes in der Welt ein. Die Familienkasse berechnet und verwaltet im Auftrag des Finanzministeriums das Kindergeld: „Wir haben mit einem Anstieg gerechnet. Aber diese Antragswelle hat uns überrascht“, sagte Brandes.

Die Kindergeldanträge von Ausländern mit Nachwuchs im Heimatland stiegen nach dem Urteil bis Ende des vergangenen Jahres um 30 Prozent. Medienberichten zufolge kommt die Bundesagentur mit dem Bearbeiten der Anträge kaum noch nach. In vielen Fällen warteten die Antragsteller seit mehreren Monaten auf die Auszahlung des Kindergeldes. Derzeit seien rund 30.000 Anträge unbearbeitet, bestätigt Familienkassen-Leiter Brandes: „Die Flut der Anträge legt die betroffenen Familienkassen teilweise lahm.“ Er versicherte aber zugleich, daß es bei inländischen Kindergeldzahlungen keine Probleme gebe.

Am schlimmsten hat es die zuständigen Behörden in den Grenzregionen zu Polen und Tschechien erwischt. In der Familienkasse Bautzen stieg die Zahl der Anträge um mehr als 70 Prozent. In der kleinen sächsischen Gemeinde an der Grenze zu Polen werden alle Kindergeldanträge aus Polen und Tschechien bearbeitet. Doch mit der vorhandenen Personalstärke sei die Antragsflut nicht mehr zu bewältigen, heißt es. Ein Grund für die hohe Zahl der Anträge ist, daß das Kindergeld – wie im Steuerrecht üblich – rückwirkend für vier Jahre beantragt werden kann.

Für die Arbeiter aus dem EU-Ausland ist der Antragsmarathon ein lohnendes Geschäft. In Deutschland werden pro Kind 184 Euro ausgezahlt, in Polen liegt der Betrag zwischen zehn und zwölf Euro. Ein Saisonarbeiter, mit zwei Kindern, der in der Bundesrepublik 1.000 Euro im Monat verdient, kann so sein Gehalt um bis zu 40 Prozent steigern. Bei drei oder mehr Kindern erhöht sich dieser Wert entsprechend. Kein Wunder, daß die Familienkasse davon berichtet, daß die wartenden Antragssteller immer wütender würden.

Während sich die meisten Parteien bei dem Thema bedeckt hielten, kritisierte die Alternative für Deutschland (AfD) das Urteil scharf: „Es ist ein absolutes Unding, daß der deutsche Steuerzahler für im Ausland lebende Kinder zahlen muß“, sagte der stellvertretende AfD-Sprecher Alexander Gauland. „Besonders vor dem Hintergrund, daß die Lebenshaltungskosten in anderen Ländern auf einem ganz anderen Niveau sind, handelt es sich hier um eine doppelte Schieflage.“ Der AfD könnte das Urteil Rückenwind bescheren. Und die nächste Entscheidung wirft schon ihren Schatten voraus. Im Oktober geht es um die Frage, ob EU-Ausländer auf Arbeitssuche in Deutschland Hartz IV bekommen.

Kommentar Seite 2

Foto: Saisonarbeiter auf einem Feld im württembergischen Tettnang: Familienkasse stöhnt unter 30.000 unbearbeiteten Anträgen

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