© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Hinein in den Bürgerkrieg
Ukraine: Die deutschen Geiseln sind frei, doch der Konflikt eskaliert immer weiter
Christian Vollradt

Gute wie schlechte Meldungen liegen dicht beieinander dieser Tage. Die Geiseln von Slowjansk – darunter vier Deutsche – sind frei. Das ist die gute Nachricht. Überschattet wird sie von der Tatsache, daß Gebiete im Osten und Süden der Ukraine immer weiter in Richtung Bürgerkrieg schlittern. Nicht etwa, weil es so kommen mußte, sondern weil es offenbar auf beiden Seiten der Konfliktparteien Scharfmacher gibt, die genau daran ein Interesse haben. Die grauenerregenden Bilder aus Odessa vom vergangenen Freitag – aufeinander einprügelnde Gruppen, Molotowcocktails auf das verbarrikadierte Gewerkschaftshaus, elendig verbrannte Menschen sowie untätige Sicherheitskräfte – veranschaulichten, wie dramatisch sich die Lage dort zuspitzt.

Zu allem Überfluß findet sich jeder, der versucht, sich von außen einen Überblick über die gewaltsamen Vorgänge zu verschaffen, inmitten eines immer heftiger geführten Propagandakriegs beider Seiten wieder, der gerade in den sozialen Netzwerken tobt. Dort wird der Ton bisweilen recht gallig; gegenseitige „Faschismus“-Vorwürfe sind inflationär, und der Vorwurf der „Russophobie“ scheint in mancher Diskussion die alte linke Totschlagvokabel „Fremdenfeindlichkeit“ abzulösen.

Daß es dennoch inmitten der widrigen Umstände innerhalb der Ostukraine gelungen ist, die OSZE-Beobachter aus den Händen ihrer Entführer freizubekommen, sorgt für mehr als Erleichterung. Es zeigt, daß die deutschen Gesprächskanäle nach Moskau – siehe die Vermittlerrolle des russischen Gesandten Lukin – weiter funktionieren; und das ist auch gut so. Allerdings muß die Bundesregierung nach der Rückkehr der deutschen Offiziere durchaus einige Fragen beantworten. Die betreffen weniger die formale Legitimation der Mission, die nach Kapitel X des Wiener Dokuments der OSZE gegeben ist und an der auch von russischer Seite offensichtlich nicht gezweifelt wurde, sondern eher den Sinn dieses Einsatzes.

War es vernünftig, daß die Militärs mit ihren ukrainischen Begleitern ausgerechnet in jene Brennpunktregion fahren, in der die Kiewer Zentralregierung faktisch nichts mehr zu melden hat? Alexander Gauland, stellvertretender Sprecher der AfD, warf der Bundesregierung vor, sie habe damit „mutwillig das Leben deutscher Soldaten aufs Spiel gesetzt“.

Warum mußte diese „kleine“ Mission dort fortgesetzt werden, wo doch die auch von Rußland mitgetragene zivile Beobachterdelegation bereits im Einsatz ist? Der Wunsch nach Aufklärung, wie ihn etwa der stellvertretende CSU-Vorsitzende Peter Gauweiler artikulierte, ist nicht anstößig, sondern eines Volksvertreters durchaus würdig. Die Kritik des Politikers am Verhalten des entführten Obersten mag man dagegen für unangemessen halten; Tapferkeit und zackiges Auftreten läßt sich vom sicheren München aus nur allzu leicht einfordern ...

Die relativ rasche erste Erwiderung des Verteidigungsministeriums, die Beobachtermission sei genau angemeldet und in Absprache mit der OSZE von anderen Inspektion abgegrenzt worden, deutet an, daß man sich im Bendlerblock der Brisanz durchaus bewußt ist. Daß die Offiziere vor ihrer Abreise vom Bundesnachrichtendienst „gebrieft“ wurden, ist gängige Praxis bei allen Einsätzen – und kein Hinweis auf eine Spionagetätigkeit.

Schwerer wiegt dagegen der Verdacht, den die Teilnehmer nach ihrer Rückkehr äußerten: sie seien nicht von den Separatisten festgenommen worden, sondern von „hochprofessionellen“ Einsatzkräften. Wer die waren und woher sie kamen – auch das sind allemal interessantere Fragen als die, ob sich ein deutscher Ex-Bundeskanzler von Putin bei Fisch und Krebsen in Sankt Petersburg herzen lassen darf.

Die russische Rolle bei der Freilassung der vermeintlichen deutschen „Kriegsgefangenen“ wurde in Berlin als positives Signal, als Entgegenkommen gewertet. Daß sich Merkel und Steinmeier jedoch mehr deeskalierendes Engagement vom Kreml in den Unruheregionen erwarten, ist naheliegend.

Wie immer man sie nennen mag – diese prorussischen Aktivisten, Separatisten, Rebellen möchten so schnell wie möglich ein Referendum durchziehen, um ihrer Sezession von der Zentralregierung in Kiew den Anschein einer Legitimität zu verleihen. Das ist so politisch nachvollziehbar wie rechtlich umstritten. Unter der Ägide irregulärer Volksmilizen ist an eine freie Abstimmung derzeit nicht zu denken, ungeachtet der Tatsache, daß selbstverständlich den Russen im Osten der Ukraine das Selbstbestimmungsrecht der Völker zusteht.

Das einhellige Ergebnis des Referendums auf der Krim vom 16. März, bei dem 97 Prozent der Wahlberechtigten für den Anschluß an Rußland gestimmt haben sollen, wird mittlerweile selbst in Moskau angezweifelt. So heißt es in einem Bericht des vom russischen Präsidenten offiziell eingesetzten Menschenrechtsrates, daß lediglich etwa 50 bis 60 Prozent der Wähler für den Anschluß gestimmt haben sollen.

In weite Ferne ist auch das Ziel der Kiewer Zentralregierung gerückt, am 25. Mai Präsidentschaftswahlen in der gesamten Ukraine abzuhalten. Wie soll das entsprechend mitteleuropäischen Demokratiestandards gehen – in jenen Landstrichen, die zwischen Anarchie und Belagerungszustand pendeln? Sicherlich hat Moskau ein Interesse, dieses Interregnum beizubehalten; Putin kann so mit Fug und Recht darauf verweisen, die Ukraine werde zur Zeit nicht von einem legitimen Präsidenten repräsentiert.

Dennoch sollte die deutsche Politik weiterhin wie eine Telefonzentrale beharrlich vermitteln. Selbst wenn das nicht bei allen Bündnispartnern oder Leitartiklern gut ankommen mag.

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