© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Pankraz,
F. Dedekind und der neue Grobianismus

Im Jahre 1549 erschien in Marburg auf lateinisch eine Schrift, welche deutsche Literaturgeschichte gemacht hat: „Grobianus“, Untertitel, ins Deutsche übersetzt: „Eine satirische Anleitung zum denkbar schlechtesten Benehmen vom Morgen bis zum Abend – als Gast wie als Gastgeber“. Verfasser war Friedrich Dedekind, ein Neu-Lutheraner und Melanchthon-Schüler ersten Grades, der schon anderweitig als handfester Schriftsteller hervorgetreten war. Der Absatz des Buches war stürmisch. Schon 1551 folgte eine Übersetzung von Caspar Scheidt in deutsche Knüttelverse, und der Absatz wurde noch stürmischer.

„Grobianus“ hatte einen Nerv der Zeit getroffen. Er gab sich nur äußerlich und mit Augenzwinkern als Kampfschrift gegen schlechtes Benehmen; im Subtext bot er eine Anleitung für die sprachliche Umsetzung der alten Volksweisheit „Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil“. Wer dir dumm oder frech kommt, so seine Quintesessenz, dem kannst du nicht mit schönen Worten und graziösen Gesten kommen, sondern dem mußt du deinerseits mit deftiger Sprache entgegentreten, schon um ihm seine Grenzen aufzuzeigen.

Allerdings darfst du dabei nicht selber dumm oder frech werden, sonst fühlt er sich in seiner eigenen Dummheit und Frechheit nur bestätigt. Das heißt, du mußt eine Sprache finden, die in Wortwahl und Artikulation zwar durchaus grob und deftig („populistisch“) ist, andererseits aber auch reflektiert und anspruchsvoll. Das höhere Sprachniveau muß „wie von allein“ durchschimmern, ohne je wichtigtuerisch aufzutrumpfen. Die groben und deftigen Wörter müssen so plaziert werden, daß sie aus sich selber Farbe und Spielraum gewinnen und so vielleicht sogar die Sprache insgesamt bereichern.

Die (lateinischen und deutschen) Sprachmeister der Renaissance, die Hans Sachs und Thomas Murner, Johann Fischart und Nicodemus Frischlin, haben die Originalität und die Eindringlichkeit des von Dedekind ausgerufenen „Grobianismus“ damals sofort erkannt und reichlich Gebrauch von ihm gemacht. Es waren ganz überwiegend, wie Dedekind selbst, überzeugte, auf geistige Auseinandersetzung begierige Lutheraner, für die Glaube und Sprache ganz eng zusammengehörten, wie sie bei Luther gelernt hatten. Dieser war in seiner Sprache ja selbst raffinierter Grobianist gewesen, der raffinierteste – und größte von allen.

Um aber auf heutige Verhältnisse zu sprechen zu kommen: Vielleicht ist Akif Pirinçci, über dessen Bestseller „Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ zur Zeit so viel Lärm gemacht wird, der literarische Vorläufer eines neuen deutschen Grobianismus! Denn besagter Lärm resultiert nicht aus dem „Was“, das er in seinem Buch thematisiert, und auch nicht aus dem „Daß“ (also daß er es überhaupt thematisiert hat), sondern überwiegend aus dem „Wie“.

Daß der Kult um Zuwanderer, Homosexuelle und Frauen in Deutschland heute wahrhaft „irre“ Formen angenommen hat, läßt sich auch bei schlimmstem Willen kaum noch bestreiten, und es gibt auch schon eine nicht unbeträchtliche Literatur über solches Irresein und seine absehbar verhängnisvollen Folgen, geschaffen von Historikern, Soziologen, anderen aufmerksamen Zeitbeobachtern. Doch die Sprache all dieser Beobachter bewegte sich bisher durchweg in höflichem, die bewährten Regeln des Anstands und eines exakten Diskurses beachtenden Stil. So konnten sie von den Platzhaltern einfach ignoriert werden.

Pirinçci nun aber hat sämtliche Regeln des Anstands und des normalen, kultivierten Diskurses mit provokativer Gebärde über Bord geworfen. Er könnte auch anders, wie sein früheres Schaffen bezeugt, doch wie seinerzeit in der Renaissance Sebastian Brant schildert er das aktuelle „Geistesleben“ genau als das, was es auch wirklich ist: als „Narrenschiff“ (so der Titel des Brantschen Werks), auf dem nur noch Vollidioten herumtorkeln, und im Hintergrund operieren einige zwar schlaue, aber abgrundtief böse Strippenzieher, die auf den spektakulären Untergang des Schiffes aus sind.

Totgeschwiegen werden kann Pirinçcis Buch nicht, eben weil es dezidiert grobianisch aufgezäumt ist. Es stellt sich – scheinbar – mit den Idioten und den Strippenziehern in eine Reihe. Es bedient mit voller Absicht sämtliche Tricks des auf Skandalisierung abgestellten Medienbetriebs, kommt nicht von außen, sondern aus der Mitte des offiziellen Herdfeuers. Aber seine Flammen sind kalt. Es ist wie das Kind aus Andersens Märchen, es konstatiert, daß es des Kaisers neue Kleider gar nicht gibt, daß der Mann splitterfasernackt, gleichsam im vorkulturellen Pavianzustand, daherkommt und sich nur unendlich lächerlich macht.

Kann, wird, sollte Pirinçcis Buch Schule machen? Brauchen wir heute, zur Erquickung oder gar zur Rettung unserer Seelen, einen neuen Grobianismus, wo eine Truppe von „Meistersingern“ à la Hans Sachs den herrschenden Massen- und Medienslang ganz planmäßig aufnimmt, genial parodiert und transzendiert, um neue Horizonte zu öffnen und neue Paradigmen zu installieren? Nun, zumindest für eine begrenzte Zeit wäre es wohl wünschenswert. Man sollte jedoch nicht zuviel davon erwarten.

Literarische Schulen allein machen noch kein neues Zeitalter. Sie verknöchern leicht, bringen am Ende zu viele bloße Beckmessers hervor, werden zur Routine und langweilen nur noch. Der erste Grobianismus in Renaissance und Lutherzeit ist der deutschen Literatur auf Dauer jedenfalls nicht allzu gut bekommen. Seine spezifische Mischung aus lateinischer Gelehrtheit und populärer Hinterfotzigkeit schottete unsere Hochsprache zu lange von der übrigen europäischen Semantik ab, verschaffte dem Französischen seine jahrhundertelange Dominanz. Erst zur Goethezeit änderte sich das wieder.

Auf gegenwärtige Zustände bezogen, hieße das: Einmal „Deutschland von Sinnen“ genügt zunächst. Jetzt sollte es darum gehen, auf breiter Front Sinn zurückzugewinnen.

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