© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Der Flaneur
Vom Glück der Sammler
Paul Leonhard

Etwa zwanzig Meter Luftlinie trennen mich von der Kontrollstelle. Hinter ihr beginnt die flüssigkeitsfreie Zone. Ein Plakat zeigt an, was alles verboten ist. Es ist viel. Ich sitze auf einer Bank und frühstücke, nehme einen tiefen Schluck aus der mitgebrachten Wasserflasche.

Ein Mann nähert sich. Typischer Individualreisender. Graue, zum Zopf gebundene Haare. Er trägt eine schwarze weite Hose, ein Marken-T-Shirt und einen roten Stadtrucksack. Der Mann kommt frontal auf mich zu, schaut auf meine Flasche. Als er ihre ausländische Herkunft erkennt, biegt er ab in Richtung der Papierkörbe. Dort stoppt er und wirft einen gründlichen Blick hinein, bevor er weitergeht.

Er trägt einen Stoffbeutel und marschiert schnurstracks auf die Abfallbehälter zu.

Wenige Minuten später kommt ein graumelierter Mann in weitem Mantel. Er trägt einen Stoffbeutel und marschiert schnurstracks auf die Abfallbehälter zu, greift tief hinein. Die zwei Flaschen, die er herauszieht, tragen kein Pfandzeichen. Er stellt sie zurück. Die beiden Frauen, die anschließend auftreten, erkenne ich sofort als Flaschensammlerinnen, aber den dynamischen Mittdreißiger mit Trolley hätte ich für einen Reisenden gehalten, ebenso den dünnen Herren in grauem Anzug.

Vielleicht anderthalb Dutzend Flaschensammler drehen in den zwei Stunden, in denen ich auf meinen Flug warte, ihre Runden. Die meisten sind Deutsche, nur zwei stufe ich als Südeuropäer ein. Einige kommen bereits zum dritten oder vierten Mal vorbei, und ich weiß, daß es umsonst sein wird. Nur ein Reisender hat sich in der Zwischenzeit von einer Plastikflasche getrennt. Eine ältere Frau zieht das begehrte Stück aus dem Behälter.

Ausgerechnet in dem Moment, wo eine Gruppe Jugendlicher mindestens sechs Flaschen entsorgt, nähern sich die Berufs-Papierkorbleerer. Mit wehmütigem Blick schaut ein alter Mann den entgangenen 1,50 Euro nach. Dann schlurft er weiter und baut sich etwa vier Meter vor einer asiatischen Familie auf. Gespannt sieht er zu, wie sich deren Wasserflaschen leeren. Noch vor dem letzten Schluck steht er vor dem Familienoberhaupt und streckt die Hand aus.

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