© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Den Vandalen auf der Spur
Völkerwanderung der Spätantike: Konrad Vössing kann ein faszinierendes Phänomen nicht fassen
Markus Brandstetter

In der Nacht des 31. Dezembers 406 überschreiten die germanischen Stämme der Sueben, Vandalen und Alanen bei Mainz den zugefrorenen Rhein und dringen tief in das Römische Reich ein. Die Vandalen, ursprünglich aus Schlesien kommend, durchqueren brandschatzend Frankreich, überqueren 409 die Pyrenäen, lassen sich in Spanien nieder, wo sie zwanzig Jahre lang bleiben, bis sie im Mai 429 die Straße von Gibraltar überwinden und durch das heutige Marokko und Algerien bis ins moderne Tunesien ziehen, wo sie am 19. Oktober 439 Karthago erobern.

Nach 35 Jahren und einem Marsch von 5.000 Kilometern haben die 80.000 Vandalen, wovon nicht einmal 20.000 Krieger waren, die nach Rom und Konstantinopel wichtigste Stadt des Römischen Reiches erobert, die sie nun fast ein Jahrhundert lang beherrschen werden. Von hier aus werden sie Kaperfahrten bis nach Rom unternehmen und wie die Goten vor ihnen die Stadt plündern.

Das ist eine der längsten Migrationsbewegungen in der Weltgeschichte und eine ebenso enorme militärische wie logistische Leistung. Ganz großes Historienkino also, aber der Bonner Geschichtsprofessor Konrad Vössing vermittelt dem Leser nur wenig davon.

Das größte Problem dieses Buches liegt darin, daß der Autor nicht gut schreibt. Die spannende und gut verständliche Erzählung von Geschichte, die auf historische Genauigkeit keineswegs verzichten müßte, ist unter deutschen Historikern längst out. Seit Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte bringen die hiesigen Geschichtsprofessoren nur noch Sozialkunde-Atlanten früherer Zeiten zustande, weil, wie Michel Foucault und die französischen Annales-Historiker gezeigt haben, Diskurse und gesellschaftliche Schichtungen die Triebkräfte der Geschichte sind und nicht Menschen. Statt einer kontinuierlichen, spannenden Erzählung, die der Stoff ganz von sich aus böte, gibt es deshalb bei Vössing ein erstaunliches Geeiere um die Terminologie auch noch der einfachsten Begriffe, allen voran „Stamm“ und „Volk“.

Völkerwanderung in Anführungszeichen gesetzt

Diese babylonische Sprachverwirrung liest sich dann so: „… sind wir damit beim eminent wichtigen prozeßhaften Aspekt der Ethnogenese. Denn diese war (…) weder irgendwie prädestiniert noch irgendwann abgeschlossen, vielmehr eine dynamische Entwicklung, bei der die historische Umgebung eine zentrale Rolle spielte. Deshalb versucht die neuere Forschung auch den Begriff ‘Stamm’ zu vermeiden (von ‘Volk’ ganz zu schweigen), der auch durch den Zusammenhang mit der ‘Abstammung’ in eine falsche Richtung weist.“

Allerdings müsse man zugeben, daß die meist gewählte Alternative, der Quellenbegriff „gens“, eigentlich ähnlich gefährlich sei, jedenfalls, wenn man die genetische Wurzel erkenne. Ethnos, die griechische Übersetzung von gens, wäre in dieser Hinsicht unverdächtig, könnte aber über die Ethnologie als Völkerkunde ebenso falsche Assoziationen erwecken, gibt Vössing zu bedenken. „Bleiben wir also bei dem hinreichend verfremdenden Begriff gens und halten fest, daß für die antike Begriffsbildung zwar sehr wohl die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft ursächlich war (…), die Realität der spätantiken Großstämme aber eine ganz andere war.“

Übersetzt in normales Deutsch heißt das: Die Vandalen waren weder ein Stamm noch ein Volk, weil sie erstens nicht eine homogene ethnische Wurzel haben und zweitens im Lauf der Zeit Menschen aus anderen Völkern und Kulturen wie Alanen, Sueben oder Goten hinzugekommen sind. Deshalb „bezeichne ich sie in diesem Buch als ‘gens’“, was zwar auch nicht stimmt, weil „gens“ im Lateinischen „Geschlecht“, „Sippe“ und eben auch wieder „Volks-Stamm“, „Volk“ und „Völkerschaft“ bedeutet, aber immerhin klingt das halbwegs fremd und unverständlich, weshalb der Leser schon nicht merken wird, daß ich begriffsmäßig auch nur alten Wein in neuen Schläuchen anzubieten habe.

Das nächste Problem liegt darin, daß der Autor allgemeinverständliche Wörter stets durch gelehrte Prunkbegriffe ersetzt: „Der Distinktionsgewinn gentiler Selbstdarstellung paßt genau zu unseren bisherigen Ergebnissen.“ „Unterschiedlich“ heißt bei Vössing also immer „distinkt“, „Entstehung“ grundsätzlich „Genese“, „Anderssein“ natürlich „Dissens“ und Völkerwanderung muß – wie in der Bild-Zeitung einst die DDR – immer in Anführungszeichen gesetzt werden, weil natürlich keine „Völker“ gewandert sind, sondern „Gentes“.

Keine Hinweise auf den historischen Kontext

Wer seine Leser so wenig achtet und die ganze Zeit ängstlich darauf bedacht ist, politisch korrekt und hochwissenschaftlich zu klingen, der verliert den großen Zusammenhang ebenso aus dem Auge wie die kleinen, bezeichnenden Details. Deshalb und weil Personen in der Sozialgeschichte bekanntlich keine Rolle spielen, wird die anschauliche Beschreibung des Vandalenkönigs Geiserich durch den gotischen Geschichtsschreiber Jordanes in eine winzige Anmerkung verbannt: „Klein von Statur und hinkend nach einem Sturz vom Pferd, hochintelligent, wortkarg, ein Verächter der Genußsucht, jähzornig, habgierig, sehr vorausschauend, wenn es darum ging, Völker aufzuwiegeln, immer bereit, die Saat für Streitigkeiten zu streuen und Haß zu erzeugen.“ Schließlich wird der Leser seitenweise mit Namen von Personen (Stilicho, Constantinus, Theoderich usw.) zugeschmissen, mit denen er nichts anfangen kann, weil sie ihm nicht vorgestellt werden.

Auch den großen historischen Kontext, der für viele Leser bei einem Buch, das sich mit einer so fernen und wenig bekannten Zeit beschäftigt, unverzichtbar ist, liefert der Autor nur spärlich. Daß das Römische Reich zehn Jahre vor dem Vandalenzug (395) in ein West- und ein Ostreich zerfallen war, daß mit den Goten unter Alarich sich zeitgleich bereits ein germanischer Stamm in Italien festgesetzt hatte, wird ebensowenig gesagt, wie genau erklärt wird, was die Völkerwanderung überhaupt auslöste und was schließlich dafür sorgte, daß die Vandalen nach hundert Jahren in Nordafrika ebenso plötzlich wieder verschwanden, wie sie einst gekommen waren. Ganze Kapitel lesen sich deshalb genauso zusammengestoppelt wie der Wikipedia-Artikel zum Thema Völkerwanderung.

Das ist doppelt schade; einmal, weil die Zeit der Völkerwanderung in eben dem Maße faszinierend und interessant ist, wie sie im Geschichtsunterricht und der allgemeinen Wahrnehmung ignoriert wird; zum anderen, weil Konrad Vössing seinen Stoff umfassend kennt und Quellen und Literatur aus sechs Sprachen verarbeitet. Wenn man dann noch auf der Rückseite des Buches liest, daß der Autor „anschaulich und klar“ schreibe, dann weiß der Leser: Hier hat die Marketing-Abteilung vergessen, ins Buch zu schauen, während die Lektorin offenbar im Jahresurlaub war.

Konrad Vössing: Das Königreich der Vandalen. Verlag Phillipp von Zabern in der WBG, Darmstadt 2014, gebunden, 208 Seiten, 24,95 Euro

Foto: Heinrich Leutemann, Vandalen in Rom, Holzstich von 1865: Enorme militärische wie logistische Leistung

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