© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Was ist, wenn der Kommunismus doch nicht so tot ist, wie wir alle glauben?
Die geballte Faust
Jeffrey R. Nyquist

Eine weitverbreitete Meinung sieht den Antikommunismus als eine fixe Idee von Menschen, die nicht imstande sind, in ‘vernünftigen’ und ‘realistischen’ Kategorien zu denken“, so Józef Mackiewicz in „The Triumph of Provocation“: „Sie sind sozusagen von einer unheilbaren Krankheit befallen, und daher ist jeder Versuch, sie zu behandeln, verschwendete Zeit. Wir können sie nur mit einem Achselzucken abtun“, so der polnische Schriftsteller, Publizist und geopolitische Denker, der 1943 Augenzeuge der Exhumierungen in Katyn wurde. Mit der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 war dem Antikommunismus somit der Boden entzogen worden, der Antikommunismus ging unter und verschwand als ernstzunehmende Kraft.

Lassen Sie mich nun ein Gedankenexperiment anstellen. War die Sowjet­union wirklich untergegangen? Ist es nicht denkbar, daß sie nach 1991 hinter der Fassade der „neuen“ russischen Demokratie insgeheim weiterbesteht? Daß Rußland und die Ukraine nun in einer „Scherenstrategie“ gemeinsame Sache gegen den Westen machen? Für Kenner der Verhältnisse ist allgemein bekannt, daß die Hälfte aller politischen Amtsträger in der Ukraine Politiker des alten, sowjetischen Schlages sind. Die Hälfte von ihnen wurde in KGB-Schulen oder anderen erzkommunistischen Institutionen ausgebildet, wie jüngst die Recherchen von Boris Čikulaj nachgewiesen haben, eines ukrainischen Aktivisten, der die Biographien von 909 Schlüsselfunktionären der Ukraine untersuchte und sich für ein neues Lustrationsgesetz zur historischen Aufarbeitung einsetzt.

Kann wirklich davon ausgegangen werden, daß ihre Dienstanweisungen nicht mehr von Moskau diktiert werden? Was auch immer Entscheidungsträger in der Ukraine vorgeben, stets wußten sie ganz genau, wer ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Und nun, vor dem Hintergrund der annektierten Krim und der blutigen Provokationen im Südosten der Ukraine, ist diese Pistole für die gesamte Weltöffentlichkeit sichtbar, entsichert und schußbereit.

Der Analytiker kratzt sich am Kopf: Kein uninteressanter Gedanke, aber so habe ich darüber noch nie nachgedacht ... Was ist von dem Konflikt zwischen Rußland und der Ukraine zu halten? Hat der ukrainische Patriotismus die sowjetischen Strukturen in einen Würgegriff genommen? Daß Moskau tatsächlich die Kontrolle verloren hätte, wird angesichts der Situation niemand behaupten wollen.

Die „Undurchschaubarkeit“ der politischen oder ökonomischen Strukturen in Rußland und vieler ehemaliger So­­wjetrepubliken ist seit zwei Jahrzehnten eine Quelle der Frustration für westliche Geschäftsleute und Politiker. Wer weiß, womöglich verfügen die ukrainischen Untergrundbewegungen über die erforderlichen Ressourcen und die Disziplin, um die Russen in ihrem eigenen Spiel zu schlagen. Man denke an die jüngsten Protestkundgebungen in Moskau, bei denen russische Staatsbürger ukrainische Fahnen schwenkten.

Doch dann schicken die Russen auf einmal mit Bomben beladene Flugzeuge in die Arktis. Sie unternehmen einen Atomraketentest. Sie mobilisieren weltweit politische Unterstützung. Da drängt sich die Frage auf: Liegt hier ein Zeitplan zugrunde?

Was, wenn Rußlands vorgebliche Verteidigung abendländischer Werte, des Christentums wie der Familie, ein Köder für die unzufriedenen Konservativen des Westens ist, um sich Unterstützer heranzuziehen, die leicht zu infiltrieren und zu steuern sind?

Die Mainstream-Medien stellen erschrocken fest, daß der Kalte Krieg wieder ausgebrochen ist; indes sind einige von uns längst zu dem Schluß gekommen, daß der Kalte Krieg nie geendet hat. Die Sowjet-Kommunisten sind nach wie vor an der Macht und setzen ihren KGB weiterhin als „Schwert und Schild“ ein, nur daß sie vollständig im geheimen operieren. Sie unterstützen weiterhin den Kommunismus in anderen Ländern. Wie kann das sein, der Kommunismus ist doch untergegangen?

Es kann: Nach 1991 leistete Moskau dem Kampf der Kommunisten in Angola gegen Jonas Savimbi tatkräftig Unterstützung, bis sie sich 2002 endgültig durchsetzten. Die angolanischen Kommunisten erhalten bis heute Hilfe aus Moskau. Ebenso unterstützt Moskau die Übernahme Venezuelas durch kubanische Kommunisten und die Aufrüstung in Nicaragua. Ganz zu schweigen von Rußlands Allianz mit dem offen kommunistischen China. Seit 1991 unterstützen die Russen kommunistische Bestrebungen in Afrika, Südamerika und Asien, ohne daß der Westen in irgendeiner Weise darauf reagiert hätte. Warum tun sie das wohl – weil sie sich 1991 vom Kommunismus losgesagt haben?

Was, wenn die Russische Föderation in Wirklichkeit eine Fassade ist, hinter der die alte KPdSU steckt und es so auf geradezu teuflisch geniale Weise möglich macht, das Vertrauen der früheren Gegner der Sowjetunion zu gewinnen – um nur um so effektiver deren Zerschlagung in die Wege leiten zu können?

Was, wenn die Ereignisse von 1991ff. ein gefälliges Liberalisierungstheater waren, um den Westen im Gefühl der Stärke und Sicherheit zu wiegen? Wenn die Ereignisse von 2014, deren Zeugen wir sind, eine großangelegte Provokation bedeuten?

„Der internationale Kommunismus, dessen Zentrale sich in Moskau befindet, ist kein ‘Imperialismus’ im üblichen Wortsinn“, so Mackiewicz. Lesen Sie Lenin, dort finden Sie es schwarz auf weiß. Lenin wurde nie begraben, die Sowjetsterne krönen nach wie vor die Türme des Kreml, das rote Banner ist wieder die Standarte der russischen Armee. „Im Sieg der unsterblichen Ideen des Kommunismus / Sehen wir die Zukunft unseres Landes“, so sang man in der sowjetischen Hymne. Deren Melodie wird noch immer verwendet, den neuen Text hat der alte Dichter beigesteuert.

Ob der KGB sich als FSB bezeichnet oder das Vaterland aller Werktätigen sich als Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), was macht das? Etikettierungen sind nach Bedarf auswechselbar. Könnte es sein, daß Putin Kommunist geblieben ist, die undemokratischen Machtstrukturen in der ehemaligen Sowjetunion kommunistische sind, ihre Mittel und Ziele die alten wie eh und je? Die vorgebliche Verteidigung abendländischer Werte, des Christentums wie der Familie, ein Köder für die unzufriedenen Konservativen Europas und der USA, um sich Unterstützerkreise heranzuziehen, die um so leichter zu infiltrieren und zu steuern sind? Zwar mögen sie wissen, daß Putin ein Diktator ist, doch kann man kaum von ihnen erwarten, daß sie das wahre Ausmaß der Falle begreifen, in die sie tappen.

Rußland ist also auf der Krim eingefallen. Rußland belädt 30 Flugzeuge mit Atomsprengköpfen. Rußland stellt Truppen in Weißrußland auf. Rußland verbündet sich mit China, Indien, Iran, Nordkorea, Vietnam, Venezuela, Nicaragua, Südafrika, Angola, Kongo, Brasilien, Bolivien, und Ecuador. Was das wohl bedeuten mag? Eine geballte Faust – das bedeutet es. Die Kommunisten sammeln ihre Kräfte zu einem offenen Vorstoß im Wissen, daß der Westen zu schwach ist, um sich ihnen ernsthaft zu widersetzen.

Bilden wir uns etwa ein, daß der Kommunismus sich aus Spaß 22 Jahre lang totgestellt hat? Glauben wir wirklich, er wird bloß nackt aus der Torte gesprungen kommen und rufen: „Ha ha, wir sind noch immer Kommunisten! War das nicht eine erstaunliche Täuschung?“ Oder wird die Täuschung realistischer enden, mit einem in Anschlag gebrachten Gewehr und Raketenfeuer?

Einiges deutet darauf hin, daß die Ereignisse von langer Hand geplant waren. Rußland hat einen Dreiviertelkreis militärischer Stützpunkte um die Ukraine herum errichtet. Das Land ist umzingelt und droht jeden Moment ganz isoliert zu werden.

Noch ist es zu früh, um aus den Ereignissen in der Ukraine schlau zu werden. Die dortige Politik ist noch den byzantinischen Machtkämpfen einer Sowjetrepublik verhaftet, wo eine Gruppe von Marionetten zugunsten einer anderen aus dem Weg geräumt wurde. Die bewaffneten Unruhen komplizieren die Lage noch zusätzlich. Wer weiß, womöglich erleben wir derzeit die Mobilisierung einer „Plan B“-Strategie, in deren Rahmen nun in der Folge des Scheiterns der „sowjetischen Strukturen“, die für Ruhe und Ordnung sorgen sollten, die russischen Streitkräfte das Land besetzen.

Einiges deutet darauf hin, daß die dortigen Ereignisse von langer Hand geplant waren. So ist es kein Zufall, daß Transnistrien als prorussische Enklave zwischen Moldawien und der Ukraine gebildet wurde (in Georgien dienten die Enklaven Abchasien und Ossetien einem ähnlichen Zweck). Die militärische Vereinigung zwischen Weißrußland und Rußland, die Boris Jelzin 1999 unterzeichnete, fügt sich ebenso nahtlos in das Gesamtbild ein. Und welchem erdenklichen Zweck diente die Aufrechterhaltung der russischen Schwarzmeerflotte mit allen anfallenden Kosten? Auch das kann kein willkürlicher Zufall, sondern muß Teil eines umfassenden Plans gewesen sein: nämlich einen Dreiviertelkreis militärischer Stützpunkte um die Ukraine herum zu errichten (Transnistrien im Südwesten, Minsk im Norden, Sewastopol im Süden und Rußland selber im Osten).

Bei alledem haben die Russen kein Hehl aus ihrer Entschlossenheit gemacht, die Ukraine selbst dann fest im Griff zu behalten, wenn ihrem Agentennetzwerk in Kiew die Kontrolle über die Regierung entgleiten sollte. Die Ukraine ist umzingelt und droht jeden Moment ganz isoliert zu werden.

Die Kiewer Regierungen sind seit 1991 im wesentlichen eine Scharade und die ukrainische Politik ein Spielball russischer Intrigen – somit ist es kein Wunder, daß Putin darauf besteht, die Ukraine sei „kein richtiges Land“. Die Auflösung der Sowjetunion war selber eine Scharade, an die wir so fest geglaubt haben, daß wir in unserer Naivität die Ukraine als etwas ansehen, das verteidigt werden kann und muß – obwohl wir dazu weder über die notwendigen Mittel verfügen, noch irgendwelche ernsthaften Vorbereitungen in die Wege geleitet haben.

Nun haben wir uns überrumpeln lassen. Wir wollen dem ukrainischen Volk helfen. Wir wollen dem ukrainischen Marionettenstaat helfen, sich von seinem KGB-Strippenzieher zu befreien. Und womöglich ist die Geschichte der agents provocateurs in Donezk und Luhansk gar nicht so seltsam, wie sie sich auf den ersten Blick ausnimmt. Schließlich ist die Geschichte der agents provocateurs bekannt für ihre „Bloody Sundays“ und Märzrevolutionen. Es wäre nicht das erste Mal, daß aus einer vorgetäuschten Revolution eine echte wird.

Warten wir also ab in der Annahme, daß das Ganze als Provokation gedacht war. Und selbst wenn es keine Provokation ist, so ist es doch eine, denn in jedem Fall wird Moskau eine solche daraus machen.

 

Jeffrey R. Nyquist, Jahrgang 1958, studierte Politikwissenschaft in Irvine/Kalifornien. Er schreibt für verschiedene konservativ-libertäre Zeitschriften und Online-Magazine, darunter Newsmax, WorldNetDaily und Financial Sense Online. Seine Artikel wurden vielfach für europäische und südamerikanische Webseiten übersetzt. Nyquist verfaßte zwei Bücher: „Origins of the Fourth World War“ („Die Ursprünge des vierten Weltkrieges“, 1998) und „Koń trojański“ (Das Trojanische Pferd, 2007).

Foto: Unter dem Zeichen des Massenmords marschieren in Uniformen der Stalinzeit russische Soldaten zum Jahrestag des Kriegsendes durch St. Petersburg: „Im Fernsehen wird gedroht, Amerika in Nuklearstaub zu verwandeln, und die Möglichkeit erwogen, ganz Europa zu besetzen“, schilderte die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch kürzlich ihre Eindrücke in der FAZ. Das Liberalisierungstheater, das die westliche Welt in Sicherheit wog, ist vom Spielplan abgesetzt.

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