© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Denker im Zeitalter der Vernutzung
Erregte Diskussion um Martin Heideggers „Schwarze Hefte“ der Jahre 1931 bis 1941: Fundamentalopposition gegen die Moderne
Wolfgang Müller

Kein Philosoph hat sein Lebenswerk so gründlich geordnet und zur Veröffentlichung aus dem Nachlaß vorbereitet wie der im Mai 1976 verstorbene Martin Heidegger. So konnte der 1920 geborene Sohn Hermann Heidegger (JF 45/02) in den beinahe vier Jahrzehnten seit dem Tod des Vaters eine gewaltige Hinterlassenschaft zum Druck befördern.

Auf 96 Bände der Gesamtausgabe kann die Heidegger-Forschung gegenwärtig zugreifen. Die Edition erregte außerhalb von Fachkreisen selten Aufmerksamkeit, auch nicht, als man sukzessive die Vorlesungen aus dem Dritten Reich publizierte, das Heidegger als erster NS-Rektor der Freiburger Universität hoffnungsfroh begrüßte.

Nachdem das Unternehmen also lange einen ruhigen Fortgang genommen hatte, schaffte es in diesem Frühjahr doch noch den Sprung in die öffentliche Arena. Geschuldet ist dies den „Schwarzen Heften“, seit 1931 überlieferten, bis 1970 geführten „Gedanken-Tagebüchern“, die nach dem testamentarischen Willen Heideggers die Gesamtausgabe beschließen sollten.

Bereits Wochen bevor die ersten drei Bände, die den Zeitraum von 1931 bis 1941 umfassen, im Buchhandel waren, sorgte ihr Herausgeber Peter Trawny (Uni Wuppertal) durch pfiffige Informationspolitik dafür, daß man in Frankreich eine „neue Heidegger-Affäre“ ausrief und auch das deutsche Feuilleton seine schräge Lesart übernahm, die Hefte offenbarten eine „ganz andere, erschreckende Dimension“ der bislang eher als „private Voreingenommenheit“ eingestuften kritischen Distanz des Denkers gegenüber Juden. Denn Heideggers Notizkladden dokumentierten einen derart geballten „Antisemitismus“, daß es gerechtfertigt sei, sein gesamtes, offenkundig antijüdisch „kontaminiertes“ Werk endlich auf den Prüfstand zu stellen. Als „in die Philosophie transformierter Antisemitismus“ oder „seinsgeschichtlicher Antisemitismus“ müsse dieses Denken fortan rezipiert werden (Die Zeit, 1/2014).

Mit solchen von Thomas Assheuer in der Zeit (13. März 2014) oder Markus Gabriel in der Welt (Ausgabe vom 8. März) nachgekäuten Expektorationen ist Trawny nicht weit entfernt von Emmanuel Faye (JF 40/10), der im sehr breiten Narrensaum akademischer Philosophie siedelt, und der unlängst gefordert hatte, Heideggers Werke als „rassistisch“ aus den Regalen der Universitätsbibliotheken zu entfernen.

Wer daraufhin die Bände mit gespitztem Bleistift aufschlägt, erwartet mindestens eine Art Fortsetzungsroman des Verschwörungsschmökers „Die Protokolle der Weisen von Zion“ – und wird enttäuscht. Füllen die „einschlägigen“ Exzerpte zum Thema Juden, Judentum, Weltjudentum doch gerade einmal drei von 1.200 Seiten, mithin kümmerliche 0,36 Prozent des Textkorpus. „Kontaminierung“ stellt man sich anders vor.

Die restlichen 99,64 Prozent der Einträge erwähnen Juden mithin nicht, sondern gehen in Fundamentalopposition zum eigenen Zeitalter. Eine Anklage, die zahllose Elemente konservativer wie progressiver Modernekritik enthält. Eine Jereminade gegen die technisch-ökonomische, „machenschaftliche“ Vernutzung des Menschen, die heute als Philippika gegen den Globalismus durchginge. Was Heidegger freilich nicht davor bewahrt, daß man ihm diese Absorption durch Zivilisationskritik ex negativo auch als „Antisemitismus“ hinreibt, wie die an geschichtsferner Infantilität kaum zu unterbietende Polemik des Bonner Jung-Philosophen Markus Gabriel belegt. Habe sich, so der Schmaldenker in der Welt, der Philosoph doch damit, so „der weitgehenden Verschweigung des nationalsozialistischen Antisemitismus“ schuldig gemacht. Schlimm, schlimm.

In der Tat war er auf Wichtigeres konzentriert. Nämlich darauf, den Nationalsozialismus in einem Atemzug mit Amerikanismus und Bolschewismus als System der vollendeten „Seinsvergessenheit“ in Grund und Boden zu stampfen. Es gibt kein Tagebuch, keine private Korrespondenz, geschweige denn veröffentlichte, durch partisanenhafte Zwischen-den-Zeilen-Botschaften Widerstand evozierende Texte aus der „Inneren Emigration“, die es an Radikalität mit dieser NS-Verdammung aufnehmen könnte.

Heidegger und die jüdische Weltverschwörung

Als Herausgeber hätte Trawny dieses Stahlgewitter, das den Nationalsozialismus wegrasiert, mit Erläuterungen spicken können. Er tut es nicht, obwohl er in seinen Nachworten verspricht, von der üblichen Praxis der Gesamtausgabe abzuweichen, die nicht „historisch-kritisch“ verfährt. „Mehr als in anderen Bänden“ wolle er daher solche Äußerungen Heideggers kommentieren, die sich „auf historische Ereignisse beziehen“, um Personen und Einrichtungen vorzustellen, die „vielleicht der jüngere Leser nicht mehr kennt“.

Trawny, trotz des Geburtsjahrs 1963, rechnet selbst zu diesen juvenilen Adressaten, denn das überwältigende Gros der Zeitbezüge ist ihm unbekannt und bleibt darum unkommentiert. Daß KdF „Kraft durch Freude“ abkürzt, ist ihm noch geläufig. Nicht indes, wer sich unter den „kleinen Privatdozenten“, zu Heideggers Ärger, anmaßt, Descartes zu widerlegen. Auf Franz Böhm, „Anti-Cartesianismus. Deutsche Philosophie im Widerstand“, Leipzig 1938, wäre hier wohl zu verweisen gewesen.

Dieser editorische Totalausfall, zu beklagen anhand von weiteren 500 Textpassagen, kommt nicht von ungefähr. Schon als Herausgeber der Notate Heideggers zu Ernst Jünger, im 90. Band der Gesamtausgabe (JF 11/05), hat Trawny seine zeit- und philosophiehistorische Inkompetenz eindrücklich bewiesen. Dort etwa monierte Heidegger 1938/39, Friedrich Nietzsche werde von NS-Seite als „Kurgastphilosoph“ verhöhnt. Als Beleg nennt er einen Autor: „Steding“. Trawny vermochte den Namen in der Handschrift nicht zu lesen, identifizierte ihn aber auch über den glasklaren Kontext nicht, obwohl Christoph Stedings „Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur“ (JF 2/13), zwischen 1938 und 1943 in fünf Auflagen verbreitet, mit seiner Nietzsche-Kritik damals in aller Munde war. Trawny, unfähig, die Perspektive der Zeitgenossen einzunehmen, ist Steding offenbar so fremd wie vielleicht Eva Braun. Er tippt daher in einer Fußnote auf einen gewissen Carl Stoeving, der den umnachteten Nietzsche um 1895 porträtiert habe.

Auf diesem blamablen Niveau ist Trawny stehengeblieben. Was ihn nicht hindert, seiner Karikatur einer Edition, die weder ein Sach- noch ein Personalregister umfaßt, ein Begleitbändchen unter dem Titel „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ anzuhängen und damit die „Denunziationsliteratur“ (Ernst Nolte) über den Philosophen zu bereichern. Wie in der Zeit und im Interview mit dem Philosophie Magazin (3/2014), verficht er darin besinnungslos die These, Heideggers Auffassung vom Weltjudentum als einer „Macht in der internationalen Kräftekonstellation“ könne man nur als (Wahn-)Idee begreifen, die ihren Ursprung in den „Protokollen der Weisen von Zion“ habe.

Trawny folgt hier akkurat dem gängigen Schema, dem zufolge eine Frontstellung gegen das Judentum ausschließlich aus „Ressentiment“ und „Vorurteil“ resultiert. Eine solche, seit Jean-Paul Sartres „Betrachtungen zur Judenfrage“ (deutsch 1948) ubiquitäre Deutung ist von Überlebenden der NS-Judenverfolgung als Antisemitismus in ordinärster Gestalt zurückgewiesen worden. Wenn jüdische „Macht“, wie Sartre und die ihn bis heute nachbetende Schwarmintelligenz glaube, nur das Phantasma von Judenfeinden sei, so argumentierte die 1939 emigrierte jüdische Publizistin Eva Reichmann, spreche man Juden ihren Charakter als ein Volk ab, das seit 4.000 Jahren weltgeschichtlicher Akteur sei.

Heidegger benötigte also keine antisemitische Kolportage à la „Protokolle“, er mußte zwischen der Balfour-Deklaration und der Gründung des Staates Israel nur die Tageszeitung lesen, um das von ihm korrekt in London und New York verortete „Weltjudentum“, das entscheidend dazu beitrug, Theodor Herzls zionistischen Traum in Palästina zu verwirklichen, als Macht unter Mächten wahrzunehmen. Ein Quentchen mehr historische Bildung verhülfe selbst Peter Trawny noch, aus dem „Vorurteils“-Gezappel des „Antisemitismus“-Diskurses zu entkommen.

Peter Trawny (Hrsg.): Martin Heidegger. Gesamtausgabe. Überlegungen II–VI (Schwarze Hefte 1931–1938), Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 2014, gebunden, 536 Seiten, 68 Euro

Peter Trawny (Hrsg): Martin Heidegger. Gesamtausgabe. Überlegungen VII–XI (Schwarze Hefte 1938/39), Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 2014, gebunden, 456 Seiten, 58 Euro

Peter Trawny (Hrsg.): Martin Heidegger. Gesamtausgabe. Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939–1941) Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 2014, gebunden, 286 Seiten, 44 Euro

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