© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Als die „undeutschen Deutschen“ Diskurse austauschten
Schrittmacher des Übergangs zur fundamentalen Liberalisierung: Die Kulturzeitschrift „Merkur“ und der Wertewandel in der frühen Bundesrepublik
Wolfgang Müller

Auch Zeithistoriker, die dieses Phänomen mit mehr als nur klammheimlicher Freude beschreiben, zeigen sich stets verblüfft, in welchem Tempo und mit welcher Radikalität die westdeutschen Eliten nach 1945 überlieferte Vorstellungen von nationaler Macht preisgaben. Was vom Deutschen Reich übrig war, so lautete das Credo des Bonner Führungspersonals, könne nie wieder Subjekt, sondern nur Objekt der Weltpolitik sein. Das war der Nährboden, auf dem die – bislang kaum erforschte – Strategie einer „nicht-nationalen Außenpolitik“ (Rolf Schroers, 1967) gedieh, deren Ziel die Auflösung der Bundesrepublik in den „Vereinigten Staaten von Europa“ war.

Im Gleichschritt mit der Verabschiedung des Nationalstaats vollzog sich die Distanzierung vom Erbe der Kulturnation und somit ein Bewußtseins-, Werte- und Mentalitätswandel, der den 1970 geborenen Erlanger Historiker Friedrich Kießling zu der keineswegs pejorativ gemeinten Formel von den „undeutschen Deutschen“ inspirierte, die in der BRD schon vor 1968 an die Stelle der Reichsdeutschen getreten seien.

Allerdings, so lautet Kießlings These in seiner „ideengeschichtlichen Archäologie der alten Bundesrepublik“ („Die undeutschen Deutschen“, Paderborn 2012), fielen die Verwerfungen im geistigen Haushalt der Nation weniger heftig aus. Die dort zu beobachtende Rettung „traditioneller Bestände“ habe den von Amerikanisierung geprägten Transformationsprozeß zwar nicht aufgehalten, aber abgebremst und die Übergänge hin zur Fundamentalliberalisierung erleichtert.

Kießlings Vermessungen der westdeutschen Ideenlandschaft begnügen sich indes mit der Analyse von vier kurz nach Kriegsende gegründeten Zeitschriften (Der Ruf, Die Wandlung, Frankfurter Hefte und Merkur), während sie Architektur-, Kunst- und Literaturdiskurse ebenso wie die deutsch-deutsche Problematik oder die Ost-West-Konfrontation aussparen. Die Arbeit ist daher auf scharfe Kritik gestoßen. Jens Hacke, selbst mit einem Werk über „Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik“ hervorgetreten (JF 12/07), warf dem Autor vor, ein großes Thema auf zu schmaler Quellenbasis und ohne erkennbare methodische Stringenz angepackt zu haben (Süddeutsche Zeitung, 11. Juli 2012). Darum wohl um Nachbesserung bemüht, wendet Kießling sich nun erneut der Geschichte des Merkur zu, der im April 1947 erstmals erschienenen und sich bis heute allmonatlich zu Worte meldenden Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken (Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2014).

Mehrstimmiger Charakter von Jünger bis Habermas

Leider bietet diese Studie kaum mehr als eine Art Zweitverwertung des umfangreichen Merkur-Kapitels seiner Monographie. Schärfer wird lediglich das „Konzept der Polarisierung“ konturiert, mit dem der Herausgeber Hans Paeschke den Widersprüche aushaltenden Binnenpluralismus des Periodikums ermöglichte, das sich dank dieser „polaren Struktur“ stets im Zentrum intellektuellen Tumults plazierte und sich als „die wohl wichtigste kulturpolitische Zeitschrift der Bundesrepublik“ etablierte. Darum sei die Redaktion jedem Umschwung des Zeitgeistes gerecht geworden, habe ihn nie ausgelöst, aber immer kritisch kommentiert und oft verstärkt, von der Verteidigung „abendländischer Humanität“ gegen die technisch-industrielle Moderne während der fünfziger Jahre, über die Bildungsdebatte der sechziger Jahre bis zu den ersten ökologischen Krisendiagnosen um 1970.

Paeschkes auf „Austauschdiskurse“ fixierte redaktionelle Vorgabe ermunterte seinen Mitherausgeber, den vor 1933 „jungkonservativ“ sozialisierten Joachim Moras, zu zahlreichen „Flottmachungen“ von Autoren, die wie Ernst Jünger, Carl Schmitt, Gottfried Benn oder Margret Boveri unter der alliierten „Entnazifizierung“ als „belastet“ galten. So verliehen bald Boveri & Co. neben Adorno, Habermas und Dahrendorf dem Merkur seinen „mehrstimmigen“ Charakter.

Ob sich der „Restaurationsvorwurf“ gegen die Adenauer-Ära angesichts einer derart offenen Debattenkultur aufrechterhalten läßt, ob mit Paeschkes Ausscheiden 1978 nicht auch die „Polarität“ des Merkur abschmolz, ob nicht überhaupt in der späten Bonner und erst recht in der Berliner Republik ein Pluralismusschwund zu registrieren ist? Diesen Fragen geht Kießling nicht nach.

Ungesagt bleibt auch, daß linke und liberale Beiträger im Merkur von Anfang an dominierten und primär die „Westernisierung“ und Entnationalisierung der BRD flankierten. Welche „älteren Ideenbestände“ nationaler Kultur hätten Konservative unter diesen Auspizien dort dann nachhaltig bewahren können? Insofern war Paeschke schon lange kein Hüter zumindest konservativer Kontinuität mehr, als Caspar von Schrenck-Notzing und Armin Mohler 1970 die „Tendenzwende“ proklamierten und mit Criticón der „heimatlosen Rechten“ ein eigenes Sprachrohr schufen.

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