© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Der Friede fröstelt
Putins Politik weckt im Europa östlich der Elbe ungute Erinnerungen. Darauf sollten wir Rücksicht nehmen
Detlef Kühn

Wladimir Putin hält den Untergang der Sowjetunion für die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Diese seine Erkenntnis ist bisher von den Entscheidungsträgern in der Europäischen Union (EU) und der Nato allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen worden. Dabei ist sie wie kaum eine andere Äußerung von ihm geeignet, die Ratio zu erklären, von der sich der Herrscher im Kreml bei seinen Entscheidungen leiten läßt.

Die Politik der Sowjetunion war von Lenin über Stalin, Chruschtschow bis Breschnew stets von zwei Komponenten bestimmt, die einander nur scheinbar widersprachen: von der international angelegten Ideologie des Marxismus-Leninismus sowie dem stets wachen russischen Nationalismus, der besonders im Umgang mit den Nachbarvölkern zum Ausdruck kam. Beide Komponenten konnten sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg in fast idealer Weise ergänzen, wenn es darum ging, in Eurasien und in der übrigen Welt die „richtigen“ machtpolitischen Entscheidungen zu treffen. Das ging, aus sowjetischer Sicht, jahrzehntelang recht gut – bis die systemimmanenten, vor allem wirtschaftlichen Fehler des Kommunismus der ganzen Herrlichkeit plötzlich ein Ende bereiteten.

Seit 1991 ist Rußland nun wieder auf sich selbst und seine (allerdings erheblichen) Rohstoffe zurückgeworfen. Die ehemaligen Satellitenstaaten in Ostmitteleuropa sind wieder selbständig und handlungsfähig. Auch einigen der in der Sowjet­union unterjochten Völker ist es gelungen, sich der Bevormundung durch den Kreml ganz oder teilweise zu entziehen. Ihnen allen ist gemeinsam, daß ihre Erfahrungen und Leiden im „Vaterland der Werktätigen“ unvergessen sind.

Dies ist, kurz gesagt, die Lage, die Putin bei seinem Amtsantritt vorfand und die er letztlich für alles verantwortlich macht, was in den vergangenen 20 Jahren in Rußland nicht optimal gelaufen ist. Dies bräuchte den Westen, also EU und Nato, eigentlich nicht allzusehr zu beunruhigen, wenn Putin nicht entschlossen wäre, die aus seiner Sicht unheilvolle geopolitische Situation, wenn irgend möglich, wieder zu korrigieren. Er möchte von den „Errungenschaften“ der Sowjetunion soviel wie möglich für das heutige Rußland retten. Dabei verschmäht er auch vergleichsweise bescheidene Landgewinne nicht. Abchasien und Südossetien zu Lasten Georgiens, jetzt die Krim zum Nachteil der Ukraine und demnächst vielleicht Transnistrien oder gar das Donezbecken. Dies ist den Ansehensverlust, den Rußland durch den eklatanten Bruch des Völkerrechts erleidet, eigentlich nicht wert.

Irrational ist Putins Politik dennoch nicht. Er geht nüchtern kalkulierend vor. Den Westen, der mit Komplikationen dieser Art nicht gerechnet hatte, hat er kalt erwischt. Man wollte Moldawien oder die Ukraine doch nur an die Segnungen der westeuropäischen Welt heranführen – nicht mehr, aber auch nicht weniger; warum versteht Putin das nicht, fragt man sich ratlos in Brüssel und in den Hauptstädten der EU-Mitgliedsländer, besonders in Berlin. Er könnte doch auch von einer solchen Entwicklung profitieren. Will er aber gar nicht; denn der ehemalige KGB-Offizier kann den dekadenten Westen nur verachten.

So haben EU und Nato der Politik des russischen Präsidenten derzeit nicht viel entgegenzusetzen. Mit militärischen Mitteln kann man Putin kaum drohen; denn man hat nach dem Ende des Kalten Krieges wirklich konventionell abgerüstet. Weil man sich von Freunden umgeben wähnte, wollte man endlich die „Friedensdividende“ kassieren. Nun muß man schon vor als Milizen getarnten russischen Speznas-Kräften kuschen.

Kurzfristig läßt sich daran nicht viel ändern. Mittelfristig schon. Man wird allerdings viel Geld ausgeben müssen, will man nicht die Erosion des Nato-Bündnisses an seiner Ostflanke riskieren. In den baltischen Staaten und in Polen erinnern sich die Menschen gut an das Jahr 1939, als sowjetische Truppen in Ostpolen und an die Ostseeküste vorrückten.

Noch ist das Vertrauen in die Verteidigungsfähigkeit der Nato in diesen Ländern nicht ernsthaft beschädigt. Das kann sich allerdings ändern. In Riga kursieren schon Gerüchte, unter den ethnischen Russen, die nach 1945 in der lettischen Hauptstadt massenhaft angesiedelt wurden, sammle man Unterschriften, mit denen Väterchen Putin um einen ähnlichen „Freundschaftsdienst“ gebeten werden soll, wie er ihn den Russen auf der Krim gewährt hat. Auch im bündnisfreien Finnland steigt die Nervosität, und in Schweden erwägt die Politik mittlerweile öffentlich einen Nato-Beitritt. Die Europäer sollten nicht in Panik geraten. Natürlich sind die Machtmittel des Rußlands von heute nicht mehr mit denen der Sowjetunion vergleichbar. Aber einige Lehren aus dem Kalten Krieg sind immer noch – oder schon wieder – gültig: Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit; und man muß kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen.

Selbstverständlich steht den Russen, etwa auf der Krim, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu. Wenn Putin allerdings in diesem Zusammenhang die Deutschen an ihre Wiedervereinigung erinnert, die unter tatkräftiger Mithilfe der Russen zustande gekommen sei, dann kann man allenfalls darüber streiten, ob dies ein guter Witz oder doch nur eine Unverschämtheit ist. Mit den Realitäten hat sie nichts zu tun. Es waren in erster Linie russische Politiker, die das besiegte Deutschland geteilt und seinen Osten ausgebeutet haben – auch wenn der Anteil der westlichen Sieger dabei nicht vergessen werden soll. Es hat über 40 Jahre gedauert, bis friedlich, in Verhandlungen mit den Siegermächten von 1945, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen verwirklicht werden konnte.

Auch dieses Zugeständnis hat sich die Sowjet­union nochmals reichlich bezahlen lassen, bis 1994 ihre letzten Truppen die ehemalige DDR verließen. Nato-Truppen sind nicht nachgerückt. Die positive Haltung Gorbatschows ist unvergessen. Putin sollte sich ein Beispiel an ihm nehmen.

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