© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/14 / 11. April 2014

Kommt die Renaissance der Religion?
Der Münchner Philosoph Michael Reder zeichnet die Debatte über Sehnsucht nach Transzendenz in unserer säkularisierten Welt nach
Felix Dirsch

Seit etwa einem Jahrzehnt geht in der westlichen Welt ein neues Narrativ um: das von der Renaissance der Religion. Es ist schwer zu entscheiden, ob es sich bei einer solchen Erzählung mehr um eine bloß feuilletonistische Redeweise handelt oder ob sich die geistliche Praxis zumindest eines Teils der Bevölkerung tatsächlich verändert.

Angesichts derartiger Urteilsunsicherheiten kann eine wissenschaftliche Monographie vielleicht einen Beitrag zur Klärung liefern. Der Münchner Philosoph Michael Reder schildert in seiner Habilitationsschrift die augenblickliche Situation des vielfältigen und unscharfen Phänomens des Religiösen in der westlichen Welt. Im Anschluß an die Rekapitulation der Religionstheorien der Moderne rekonstruiert er den gegenwärtigen Diskurs über Transzendenz und Immanenz in der politischen Philosophie, der maßgebliche Impulse durch „Nine Eleven“ und die Wahl eines deutschen Theologen zum Papst erhalten hat. Man kann natürlich fragen, warum von den Vätern der modernen Religionssoziologie Émile Durkheim ausführlich thematisiert wird, Max Weber aber nur am Rande und der am Münchner Lehrstuhl für systematische protestantische Theologie intensiv erforschte Ernst Troeltsch gar nicht. Wichtiger ist freilich, daß der Verfasser die zentrale Rolle Jürgen Habermas’ an den derzeitigen Debatten herausstellt, von dem kolportiert wird, er sei auf seine alten Tage doch noch fromm geworden.

Im Sinne eines wissenden Nichtwissens thematisiert

Auch andere Protagonisten der Diskussionen werden ausführlich beleuchtet, so der antiklerikale Ironiker Richard Rorty und der in den achtziger Jahren als Kommunitarist weltweit bekannt gewordene Politiktheoretiker Michael Walzer. Ebenso verdienstvoll sind die Erörterungen über Niklas Luhmanns Beiträge. Wer die postmoderne Sicht des Glaubens analysiert, kommt um die genaue Beschreibung der Ansichten von Jacques Derrida und Gianni Vattimo nicht herum. Auch diese beiden Gelehrten werden von Reder kenntnisreich dargestellt.

Zu den interessantesten Passagen der Untersuchung zählt der vierte Abschnitt. Er arbeitet philosophiehistorische Anregungen heraus, die zum Verständnis der religiösen Signatur der Gegenwart einiges beitragen können. Der Autor greift hier auf die Ansätze von Nikolaus von Kues, Friedrich Schleiermacher und John Dewey zurück, die eine religionsphilosophische Innenansicht präsentieren, die den meisten Gegenwartsansätzen fehlt. Das mag darin begründet sein, daß die drei Denker in einer vergleichsweise geschlossenen christlichen Kultur lebten, während Leute wie Habermas in Zeiten publizieren, in denen der gesellschaftliche Einfluß der Kirchen merklich zurückgegangen ist.

Im Rückgriff auf Cusanus, Schleiermacher und Dewey definiert Reder Religionen als „sprachliche und symbolhafte Ausdrucksformen, die das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens thematisieren“. Eines der großen Verdienste der Arbeit Reders ist es, die meist gedankenlos verbreitete Annahme der diametralen Unterschiede von Glaube und Wissen nachhaltig hinterfragt zu haben. Der Verfasser begründet plausibel einen wechselseitigen Bezug beider Bereiche.

Natürlich kann der Fachmann den Einwand erheben, daß einige Autoren ausgewählt sind, etwa Luhmann, die auf die heutigen religionstheoretischen Diskurse nur indirekt Einflüsse ausüben. Ebenso läßt sich bemängeln, daß wesentliche Teilnehmer des Disputs im letzten Jahrzehnt zu sehr marginalisiert oder gar nicht erwähnt sind. Dazu zählt vornehmlich Peter Sloterdijk mit seiner den Topos von der Wiederkehr der Religion kritisierenden Studie „Du mußt dein Leben ändern“, darüber hinaus John Rawls mit seiner postumen Publikation „Über Sünde, Glaube und Religion“. Weiterhin ist René Girard zu nennen, der mit seiner Auffassung von der Überwindung des für alle Gemeinschaften konstitutiven Sündenbockmechanismus durch den Tod Christi eine der originellsten Apologien der Gegenwart vorgelegt hat. Gewiß nimmt der französische Literaturwissenschaftler primär Anleihen bei der philosophischen Anthropologie. Das ändert aber nichts an seinen religionsphilosophischen Ambitionen. Von den bei Reder gewürdigten Denkern ist Girards Ansatz besonders bei Vattimo auf fruchtbaren Boden gefallen.

Trotz dieser vielleicht kaum vermeidbaren Desiderate besticht der Kenntnisreichtum von Reders Darstellung. Sie wird auch dann noch Rezipienten finden, wenn vieles dessen, was über diese Problematik derzeit erscheint, längst als Dutzendware vergessen sein wird.

Michael Reder:

Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie. Karl Alber Verlag, Freiburg 2013, broschiert, 453 Seiten, 49 Euro

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