© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/14 / 11. April 2014

Mindestlohn
Weil der Markt es nicht schafft
Konrad Adam

Unter den zahlreichen Legenden, die über Karl Kraus in Umlauf sind, findet sich auch die folgende. Als ebenso geschätzter wie gefürchteter Spötter sei Kraus dazu eingeladen worden, einen Vortrag über „Die Moral des Marktes“ zu halten. Er habe die Einladung zurückgeschickt, versehen mit der Bemerkung, er verstehe das Thema nicht: worüber solle er sprechen, über die Moral oder über den Markt?

So scharfsinnig ist heute keiner mehr. Vorträge über die Moral „des Marktes“ oder, besser noch, „der Märkte“ sind überall zu hören und jederzeit zu lesen. Und anders als Karl Kraus, der das Zusammenspannen von Markt und Moral als Witz empfunden hatte, nehmen die heutigen Redner das Thema blutig ernst. Sie schreiben dem Markt (oder den Märkten) wenn schon keine moralischen Absichten, so doch eine moralische Wirkung zu, den gerechten Tausch von Geld gegen Leistung. Der Markt wisse und vermöge mehr als alle Herren dieser Welt: Er könne den gerechten Preis und den gerechten Lohn nicht nur ermitteln, sondern auch durchsetzen.

Wirklich? Seitdem die Märkte an der Macht sind, ist als erster und einziger Wertmaßstab für alles und jedes die bare Zahlung übriggeblieben. Dieser Maßstab gilt für Sachen und für Menschen: Der Preis soll stimmen und die Leistung endlich wieder lohnen – was sie ja auch tut, zumindest für die wenigen, die definieren, was Leistung ist und wie sie zu belohnen sei. Deswegen lohnt sie sich für Leute wie Martin Winterkorn, den VW-Chef, der das Fünfhundertfache von unsereinem nach Hause trägt, oder für Dieter Zetsche, der sich von Daimler-Benz 40 Millionen Euro für seine Ruhestandsbezüge zurücklegen läßt.

Für diejenigen, die sich nicht in der komfortablen Lage befinden, selbst über ihr Gehalt befinden zu dürfen, lohnt Leistung aber vielfach nicht. Sie müssen zwei, drei oder vier schlechtbezahlte Arbeitsverhältnisse übernehmen, um halbwegs auskömmlich über die Runden zu kommen. Das bedauernswerte Schicksal trifft keineswegs nur Faulpelze und Arbeitsscheue, sondern Friseusen und Reinigungskräfte, Sicherheitspersonal und Pflegedienste. Einen plausiblen Grund dafür vermag ich nicht zu erkennen. Was passieren würde, wenn die 15 Millionen teure Doppelspitze in den berühmten Doppeltürmen der Deutschen Bank ein Jahr lang ihre Arbeit ruhen ließe, weiß ich nicht; wahrscheinlich würde die Bank ein paar Prozesse weniger verlieren. Was zu erwarten ist, wenn eine Krankenschwester streikt, weiß ich dagegen aus Erfahrung.

Was da vom sogenannten Markt belohnt oder bestraft wird, ist immer seltener die Leistung und immer häufiger die Macht, die nackte, brutale Verhandlungsmacht. Von der besitzt ein Vorstandschef eine ganze Menge, die Krankenschwester herzlich wenig, und das erklärt zum guten Teil, warum der eine auf der Gehaltsskala so weit oben, die andere so weit unten steht. Der Jahresgewinn der Deutschen Bank ist eingebrochen, die Dividende sinkt, aber die Gehälter der leitenden Herren springen kräftig nach oben. Ihre Leistung besteht offenbar in dem Talent, ihre Arbeitsverträge so zu gestalten, daß der eigene Gewinn auch dann wächst, wenn der des Unternehmens, das sie führen, sinkt.

Raffgierige sind gegen den Mindestlohn und gegen den Gehaltsdeckel für sich selbst. Aus demselben Grund sollte, wer der Weisheit des Marktes mißtraut, beides verlangen, den Gehaltsdeckel als Schranke nach oben und den Mindestlohn als Grenze nach unten.

In seinem Buch über den „Preis der Ungleichheit“ hat der amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz das perverse Geschäftsmodell, das diesem Markt zugrunde liegt, bündig beschrieben: belohnt werde nicht die Fähigkeit, neues Vermögen zu schaffen, sondern die Bereitschaft, es anderen einfach wegzunehmen. Es ist doch kein Zufall, daß der Spanier Amancio Ortega in eben den Jahren, in denen seine Landsleute zu Hunderttausenden Arbeit und Einkommen verloren haben, zum reichsten Mann Europas aufstieg: Er schaffte das nicht obwohl, sondern weil es allen andern so schlecht ging. Das eine gehört zum anderen.

Verständlich, daß Leute seines Schlages gegen beides sind, den Mindestlohn für die Plebs und den Gehaltsdeckel für sich selbst. Aus demselben Grund sollten diejenigen, die der Weisheit des Marktes mißtrauen, beides zugleich verlangen, den Gehaltsdeckel als Schranke nach oben und den Mindestlohn als Grenze nach unten. Natürlich wäre es mir lieber, der Markt könnte den humanen Ausgleich zwischen Oben und Unten aus eigener Kraft zustande bringen; doch das schafft er ja nicht. In seiner heutigen Gestalt belohnt er nicht die Leistung, sondern die Rücksichtslosigkeit, den Geiz und die Gier. Und das sind nach der Lehrmeinung der Kirche keine Tugenden, sondern Sünden, Todsünden sogar, die nicht belohnt, sondern bestraft werden sollten.

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ und bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Auf dem Forum setzte er sich zuletzt mit dem Generationenvertrag auseinander („Nach uns die Sintflut“, JF 50/13).

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