© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/14 / 11. April 2014

Der umcodierte Staat
Unerklärter Ausnahmezustand: Der Umgang mit illegalen Besetzungen in Berlin stiftet neues Recht
Thorsten Hinz

Die Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg bleibt auch nach der am Dienstag dieser Woche erfolgten Räumung des Ora-nienplatzes weiterhin von Flüchtlingen besetzt, und der Görlitzer Park verbleibt in der Hand der Drogendealer. Es ist müßig, die täglichen Wasserstandsmeldungen noch zu kommentieren. Das Nächstliegende, nämlich geltendes Recht durchzusetzen, ist für den Staat die fernste aller Möglichkeiten. Stattdessen hat er sich in Verhandlungen mit den Rechtsbrechern begeben. Sie brauchen sich dem Gesetz nicht zu unterwerfen, sie diktieren ihm ein neues.

„Rechtsfreie Räume“, „No-go-Areas“ oder „autonome Zonen“, also Bereiche am äußersten Rand oder außerhalb der Legalität, gibt es seit jeher. Sie werden nicht ausdrücklich als solche ausgewiesen, aber faktisch geduldet. Manche sehen darin eine Beschädigung des Rechtsstaates. Andere argumentieren, der Rechtsstaat erweise sich gerade dadurch als stabil, indem er elastisch handele. So kann man es in der Tat sehen: Indem er jugendlicher oder krimineller Renitenz überschaubare und kontrollierte Spielwiesen zuweist, hegt er sie gleichzeitig ein und trägt im Idealfall zur Resozialisierung der Betreffenden bei. Weitere positive Nebeneffekte sind möglich: So haben die Hausbesetzer in den 1980er Jahre in Berlin viele Gründerzeithäuser gerettet, die der Kahlschlagsanierung zum Opfer fallen sollten.

Doch jetzt geht es um etwas anderes. Die Renitenz wird nicht eingehegt, sondern im doppelten Sinne entgrenzt: Bürger anderer Staaten besetzen in Deutschland öffentliche Räume und beanspruchen die Rechte und Ressourcen, die exklusiv den Staatsbürgern zukommen. Damit stellen sie, erstens, die Souveränität des Staates und des Staatsvolkes in Frage. Ihre Forderungen gehen, zweitens, über den Einzelfall hinaus und zielen auf einen Paradigmenwechsel, der auch für künftige Asylbewerber gelten soll.

Die Berliner Politik ist der Lage nicht gewachsen

Die Berliner Politik ist der Lage weder verbal noch praktisch gewachsen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), der mit dem Satz „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ berühmt geworden ist, gibt durch sein Schweigen zu erkennen, daß sein geistig-moralischer Anspruch sich in diesen Worten erschöpft hat. Ähnlich sieht es in der mediokren Lokalpresse aus: Die im Ostteil der Stadt verankerte Berliner Zeitung behauptet, das Problem sei durch die „Abschottung“ Europas verursacht worden, und die Stadt müsse sich ihrer „gesellschaftlichen Verantwortung“ stellen. Der vor allem im Westteil gelesene Berliner Tagesspiegel immerhin moniert, die Besetzungen „verformten“ die Berliner Politik, ohne die Verformungen konkret zu benennen.

Die Hilf- und Sprachlosigkeit zeugt nicht bloß von der geringen Qualität des politischen und journalistischen Personals, sie bildet auch die Innenseite einer größeren Entwicklung ab, die mit den Aktionen der Flüchtlinge in das Scheinwerferlicht der Evidenz tritt. Es handelt sich um die spezifische Form eines unerklärten Ausnahmezustandes, unter dem das geltende Recht teilweise außer Kraft gesetzt und sukzessive durch ein neues ausgetauscht wird. Die besondere Qualität des Zustands besteht darin, daß er keine zeitliche oder örtliche Ausnahme mehr ist und nicht auf die Wiederherstellung verletzter Rechtlichkeit abzielt. Es handelt sich um einen permanenten Prozeß, der allmählich neues Recht stiftet.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat in seiner Carl-Schmitt-Exegese den Beginn der Entwicklung auf den 11. September 2001 datiert. Ab diesem Zeitpunkt sei der herkömmliche Ausnahmezustand durch das „Sicherheitsparadigma“ überformt worden, das in Guantanamo, dem Ort der absoluten Rechtlosigkeit, seine äußerste Ausprägung erfährt. Man kann dieses Modell auf andere Bereiche übertragen, etwa auf die Maßnahmen zur Euro-Rettung, die an Recht und Gesetz nicht gebunden und ausschließlich durch die Behauptung legitimiert werden, sie seien „alternativlos“.

Öffentlicher Rechtsbruch wird entkriminalisiert

In Berlin erleben wir nun den Durchmarsch eines Menschenrechtsparadigmas, das über Gesetz und staatliche Souveränität hinwegschreitet und sich als internationales Überrecht etabliert. Die Uno, Menschenrechtsgremien und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sind seine Motoren. Im Innern verbinden diverse Aktivisten das Menschenrechtsparadigma mit dem Widerstandsrecht, in Wahrheit mit dem Recht auf Gewalt, um jeden Widerstand dagegen zu brechen. Ein erpreßtes Bleiberecht ist im Kern ein revolutionäres Recht, denn es zählt zu den „Vorgängen, die per se extra- oder antirechtlich sind, in Recht übergehen und in der die Rechtsnormen unbestimmt werden (...)“ (Agamben). Die Ausnahme wird zur Regel und das Recht situativ, nach politischer Zweckmäßigkeit, angewandt.

Während in Berlin massenweiser öffentlicher Rechtsbruch entkriminalisiert und damit neues, revolutionäres Recht etabliert wird, legt die Münchner Justiz gegen den Islam-Kritiker Michael Stürzenberger ein akkurates Rechtsverständnis alter Ordnung an den Tag. So wurde dem Landesvorsitzenden der Partei Die Freiheit ein Strafbefehl zugeschickt, weil er im Juli 2013 auf zwei Kundgebungen seiner Partei gegen Auflagen des Kreisverwaltungsreferats verstoßen hatte. „Nach zehn Minuten Redezeit hätten mindestens zehn Minuten Pause folgen sollen, woran sich Stürzenberger achtmal in Folge nicht hielt.“ (Süddeutsche Zeitung vom 19. März 2014)

Man muß Stürzenbergers verbissene Islam-Feindschaft nicht teilen, um zu sehen, daß er in der Hauptsache das nationalstaatliche Paradigma gegen seine schleichende Ablösung verteidigt. Seine juristische Verfolgung verdeutlicht, daß die Erosion staatlicher Institutionen eher als Umcodierung denn als Zerfall zu verstehen ist. In der Folge wendet der Staat sich gegen diejenigen, die darauf beharren, daß sie als Deutsche in Deutschland mit dem Heimat- zugleich ein Vorrecht gegenüber anderen besitzen. Der umcodierte Staat macht sich zum Vollstrecker eines humanitaristischen Weltrechts und wird damit zur revolutionären Bürgerkriegspartei. Die Gegner der globalen Menschenrechtsideologie werden als öffentliche Feinde behandelt. Ihr gesellschaftlicher Status ist im Zweifelsfall geringer als der eines Totschlägers, sei es mit in- oder ausländischem Paß.

Falls die Flüchtlinge vom Oranienplatz demnächst Gelegenheit erhielten, als Angestellte einer staatlichen Antirassismusbehörde es den Kritikern ihrer Aktionen heimzuzahlen, läge das völlig in der Logik dieser Entwicklung.

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