© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/14 / 04. April 2014

Ein kalkuliertes Versehen
Bomben auf Schaffhausen im April 1944: War der US-amerikanische Angriff vor siebzig Jahren gegen die Schweizer Industrie gerichtet?
Paul Leonhard

Du wirst von der Bombardierung Schaffhausens gehört haben. Glücklicherweise kann ich Dir berichten, daß unsere Familie unversehrt blieb, sowie alle nächsten Verwandten. Es ist hier großer Schaden angerichtet worden. Speziell die Quartiere am Rhein, wo die alten Fabriken stehen.“ Als diese an die ausgebombten sächsischen Verwandten gerichtete Postkarte am 6. April 1944 abgestempelt wird, übrigens mit einem für Schaffhausen als „Stadt der schönen Museen“ werbenden Stempel, ist der Fliegerangriff fünf Tage her.

Am 1. April 1944 hatten zwei Staffeln US-amerikanischer Liberator-Bomber knapp tausend Brand- und Sprengbomben über der zur neutralen Schweiz gehörenden Stadt Schaffhausen abgeworfen. In vierzig Sekunden kamen nach unterschiedlichen Angaben zwischen 40 und 49 Menschen ums Leben, 270 wurden zum Teil schwer verletzt, 33 Wohnhäuser zerstört. Fast vollständig vernichtet wurden das Naturhistorische Museum auf dem Herrenacker, der Südflügel des Bahnhofs, schwer beschädigt das Museum zu Allerheiligen und die Steigkirche.

„Das ist ihr Luftkrieg gegen militärische Ziele“, überschrieb der Völkische Beobachter am 3. April seinen Bericht: „Die Schweizer mußten am eigenen Leib verspüren, daß diese Yankees einen rücksichtslosen Luftterror ausüben und sich dabei um die Neutralität der Schweiz nicht im mindesten kümmern.“ Ähnlich formulierten andere deutsche Zeitungen: „Vielmehr wird hier offenbar, daß die Luftgangster wahllos Wohnviertel, Kirchen und Kulturdenkmäler heimsuchen, mit der ausgesprochenen Absicht, die Bevölkerung zu terrorisieren, um ihr einen möglichst hohen Blutzoll abzufordern.“

Die zeitgenössische Postkarte aus der Schweiz mit dem roten Freigabestempel „Geprüft! Oberkommando der Wehrmacht“ enthält neben genauen Angaben über Schäden und Opfer den Satz: „Ein verhängnisvolles Versehen!“ Das dürfte damals eher eine Hoffnung als die Mehrheitsmeinung der Eidgenossen gewesen sein. In der Schweiz war bekannt, daß die Alliierten „schwarze Listen“ mit jenen Industriebetrieben führten, die kriegswichtige Waren an Deutschland lieferten. Zwischen 1940 und 1944 exportierte die Schweizer Rüstungsindustrie Waren im Wert von 633 Millionen Franken an die Achsenmächte.

Mutmaßlich „eine gezielte Warnung“ an die Schweizer

Vor dem Angriff auf Schaffhausen hatten bereits amerikanische Bomben Högg getroffen, waren im Industriegebiet eingeschlagen und neben dem Eisenbahnviadukt, hatten die Zahnradfabrik Maag in Mitleidenschaft gezogen. Und im Mai 1943 schlugen britische Bomben in der Nähe der Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon und entlang der Bahnlinie Seebach-Affoltern-Wettingen ein.

War der Angriff auf Schaffhausen, diese erneute Bombardierung der Schweiz nicht vielleicht doch Absicht oder zumindest „eine gezielte Warnung“ an die Eidgenossen? Denn während die Alliierten im Februar 1944 mit riesigen Verlusten an fliegendem Material versuchten, die deutsche Flugzeug- und Panzerproduktion auszuschalten, insbesondere die kriegswichtige Kugellagerproduktion in Schweinfurt, wurden in Schaffhausen ungestört Kugellager sowie Teile für die Me 109 und Flakgranaten produziert.

Obwohl die Alliierten von einem verhängnisvollen Irrtum und einer Verwechslung von Schaffhausen mit Ludwigshafen sprachen, sich US-Präsident Franklin D. Roosevelt umgehend entschuldigte und versprach, Wiedergutmachung zu leisten, blieben die Schweizer verunsichert. Insbesondere die Schaffhauser wollten nicht an Navigationsfehler und schlechtes Wetter glauben. Schließlich griffen die Bomber an einem Tag mit „stahlblauem und wolkenlosem“ Himmel an, wie Augenzeugen berichteten. Auch waren auf die Dächer große Schweizerkreuze aufgemalt. Skeptisch zeigte sich auch der Schweizer Tagesanzeiger: „Fast alle Sender Europas waren in Betrieb. Genaue Eigenpeilungen nach der Funknavigation wären also ganz gewiß möglich gewesen.“ Offensichtlich hätten die US-amerikanischen Piloten aus Gleichgültigkeit darauf verzichtet, Eigenpeilungen vorzunehmen.

Allerdings war diese Schönwetterfront über Schaffhausen die Ausnahme. Als die Bomberbesatzungen die Stadt unter sich sahen, hatten sie eine lange Strecke ohne jeglichen Sichtkontakt zum Boden hinter sich und völlig die Orientierung verloren. Daß die Piloten nicht wußten, wo sie sich im Moment des Bombenabwurfs befanden, geht aus amerikanischen Quellen hervor, die Jonas Anderegg in seiner spannenden Maturitätsarbeit „Die Bombardierung von Schaffhausen: Irrtum oder Absicht?“ von 2007 zitiert.

Noch 1945 fielen Bomben auf Basel und Zürich

Die Bomberbesatzungen seien auf die Anforderungen des europäischen Kriegsschauplatzes schlecht vorbereitet worden, hätten nur unzureichende Kenntnisse wichtiger technischer Geräte besessen. Letztlich sei der Angriff auf Schaffhausen auf schlechtes Wetter, unerwartete Windverhältnisse, fehlerhafte Navigation durch unzureichende Ausstattung und menschliche Irrtümer zurückzuführen. Überdies war in einem der Leitflugzeuge das Radar ausgefallen. Lediglich eine Bombergruppe konnte Schaffhausen korrekt identifizieren und drehte ab.

Der Begriff „irrtümliche Bombardierung“ sei nicht zutreffend, schlußfolgert Anderegg. Schaffhausen hätte nicht angegriffen werden dürfen, weil die Bomberbesatzungen sie nicht der Vorschrift gemäß „endgültig und frei von allen Zweifeln“ als eine deutsche Stadt identifiziert hatten und sich die Flieger nicht ihrer gegenwärtigen Position bewußt waren. Anderegg plädiert am Ende seiner Arbeit daher für den Begriff der „unwissentlichen Bombardierung“.

Der Angriff auf Schaffhausen sollte nicht die letzte Bombardierung der Schweiz sein. Am 22. Februar 1945 warfen B 24 der US-Luftwaffe Bomben auf Tägerwilen, Rafz und Stein am Rhein, am 4. März auf Zürich und Basel. Zumindest für den Angriff auf Zürich, bei dem fünf Menschen starben, mußten sich zwei US-Flieger in England vor Gericht verantworten. Beide verwiesen auf schlechte Sicht und technische Defekte. Sie wurden freigesprochen.

Foto: Schaffhausen nach dem US-Bombenangriff vom 1. April 1944: Die Schweizer Exporte von Rüstungsgütern an die Achsenmächte als Ärgernis

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