© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/14 / 04. April 2014

Ukraine-Krise
Der Kalte Krieg geht weiter
Alain de Benoist

Die derzeitigen Ereignisse in der Ukraine sind komplex, und sie sind schwerwiegend. Komplex deswegen, weil die verfügbaren Informationen durchaus zu unterschiedlichen Beurteilungen führen können. Unter diesen Umständen gilt es also zu entscheiden, was daran wesentlich und was sekundär ist.

Wesentlich ist aus meiner Sicht das auf globaler Ebene bestehende Kräfteverhältnis zwischen den Anhängern einer multipolaren Welt, zu denen ich mich selber zähle, und denjenigen, die eine unipolare Welt unter der Vorherrschaft der liberal-kapitalistischen Ideologie wollen oder akzeptieren. Aus dieser Perspektive ist alles, was dazu beiträgt, die amerikanisch-westliche Herrschaft über die Welt einzuschränken, als positiv und alles, was sie verstärkt, als negativ zu bewerten.

Nachdem Europa inzwischen jeglichen Willen zur Macht und Unabhängigkeit aufgegeben hat, stellt Rußland ganz offensichtlich die wichtigste Alternative zur amerikanischen Hegemonie dar.

Für den gestürzten ukrainischen Präsidenten verspüre ich nicht die geringste Sympathie. Janukowitsch war ganz offensichtlich ein verabscheuenswerter Mensch und ein durch und durch korrupter Autokrat. Genausowenig bin ich ein uneingeschränkter Bewunderer von Wladimir Putin, der allem Anschein nach ein großer Staatsmann ist, der die Grundsätze der Realpolitik virtuos beherrscht und seinen amerikanischen und europäischen Pendants in dieser Hinsicht weit voraus ist, vor allem aber ein Pragmatiker ist. Das ändert nichts daran, daß die „Revolution“ in Kiew, soweit sich das aus heutiger Sicht überhaupt beurteilen läßt, vor allem amerikanischen Interessen diente.

Ob die Amerikaner diese „Revolution“ angeregt oder gar finanziert haben, wie sie es bei der letzten Runde von Revolutionen in der Ukraine, Georgien, Kirgisien taten, entzieht sich meiner Kenntnis. In jedem Fall haben sie sie von Anfang an eindeutig unterstützt. Der neue ukrainische Ministerpräsident, der milliardenschwere Ökonom und Anwalt Arsenij Jazenjuk, für den bei den Präsidentschaftswahlen 2010 gerade einmal 6,9 Prozent der Ukrainer ihre Stimmen abgaben, begab sich umgehend nach Washington, wo Barack Obama ihn im Oval Office empfing – eine Ehre, die in der Regel Staatschefs vorbehalten bleibt. Sofern es nicht zu einer unvorhergesehenen Wendung kommt, sind die Ereignisse, die in die Vertreibung des ukrainischen Staatschefs mündeten, aus Sicht derjenigen, die gegen die Weltherrschaft der USA kämpfen, nicht als positiv zu betrachten.

2. Neuerdings ist überall von der „Rückkehr zum Kalten Krieg“ die Rede. Dabei lautet die eigentliche Frage, ob er jemals zu Ende war. Lange vor dem Untergang der Sowjetunion betrieben die Amerikaner bereits eine Politik, die unter dem Deckmantel des Antikommunismus grundlegend antirussisch war. Das Ende des Sowjetsystems änderte nichts an den grundlegenden geopolitischen Gegebenheiten. Seit 1945 sind die USA stets bemüht gewesen, das Aufkommen einer konkurrierenden Macht zu verhindern. Nachdem die Europäische Union auf Ohnmacht und politische Handlungsunfähigkeit reduziert worden war, betrachteten sie Rußland stets als potentielle Bedrohung ihrer Interessen.

Viele Ukrainer haben bei den Protesten einen Mut bewiesen, der Respekt verdient. Die eigentliche Frage ist nun, ob das Ergebnis der „Revolution“ darin bestehen wird, daß anstelle des „großen russischen Bruders“ der amerikanische Big Brother das Sagen hat.

Zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung gelobten die USA feierlich, die Nato nicht nach Osteuropa ausdehnen zu wollen. Dieses Versprechen haben sie nicht gehalten. Die Nato, die zeitgleich mit dem Warschauer Vertrag von der politischen Bildfläche hätte verschwinden müssen, wurde nicht nur beibehalten, sondern bis ins Baltikum und damit bis zu den Grenzen des russischen Staats ausgedehnt. Sie verfolgt nach wie vor das gleiche Ziel: Rußland zu schwächen und einzukreisen, indem seine Nachbarn destabilisiert oder aber unter Nato-Kontrolle gebracht werden.

Das Handeln der USA ist also ganz darauf ausgerichtet, die Bildung eines großen „Kontinentalblocks“ zu verhindern. Zu diesem Zweck wird den Europäern eingeredet, ihre Interessen lägen im Widerspruch zu den russischen, obwohl sie sich in Wirklichkeit hervorragend ergänzen. Eben deswegen ist die „territoriale Integrität“ der Ukraine ihnen mehr wert als die historische Integrität Rußlands. Zum Kalten Krieg zurückzukehren, bedeutet für die Amerikaner, zu den günstigsten Voraussetzungen für eine Unterwerfung Europas durch Washington zurückzukehren. In die gleiche Richtung führt das Projekt eines „großen transatlantischen Marktes“, das derzeit zwischen der EU und den USA verhandelt wird.

3. Komplikationen ergeben sich aus dem heterogenen Charakter der Opposition gegen Janukowitsch. In der westlichen Presse ist diese Opposition in der Regel als „proeuropäisch“ dargestellt worden, was eindeutig eine Lüge ist. Unter den Gegnern des ehemaligen ukrainischen Präsidenten herrschen in Wahrheit zwei vollkommen gegensätzliche Tendenzen vor: auf der einen Seite diejenigen, die eine enge Bindung an den Westen wollen und von der Nato-Mitgliedschaft unter amerikanischem Schutz träumen, auf der anderen Seite die Verfechter einer „ukrainischen Ukraine“, die weder von Moskau noch von Washington oder Brüssel abhängig ist. Der einzige Punkt, in dem sich beide Strömungen berühren, ist ihre absolute Abneigung gegen Rußland. Die Proteste auf dem Unabhängigkeitsplatz richteten sich vor allem gegen Rußland, und Janukowitsch wurde als „prorussischer“ Präsident gestürzt.

Die ukrainischen Nationalisten, die sich in Bewegungen wie Swoboda oder Rechter Sektor sammeln, werden in den Medien regelmäßig als Extremisten und ewiggestrige Nazi-Anhänger dargestellt. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Einige von ihnen scheinen in der Tat einem haßerfüllten Ultra-Nationalismus anzuhängen, den ich verabscheue. Es ist jedoch keineswegs selbstverständlich, daß sämtliche Ukrainer, die Unabhängigkeit fordern, dies aus den gleichen Beweggründen heraus tun. Viele von ihnen haben bei den Protesten einen Mut bewiesen, der Respekt verdient. Die eigentliche Frage lautet nun, ob sie ihres Sieges beraubt werden durch eine „Revolution“, deren hauptsächliches Ergebnis darin besteht, daß anstelle des „großen russischen Bruders“ zukünftig der amerikanische Big Brother das Sagen hat.

4. Die Lage auf der Krim ist sowohl eindeutiger als auch einfacher. Seit mindestens vier Jahrhunderten ist die Krim ein russisches Territorium, auf dem im wesentlichen russische Bevölkerung lebt. Sie beherbergt überdies die russische Flotte, und Sewastopol bildet den russischen Zugang zu den „warmen Meeren“. Daß Putin jemals zulassen würde, daß die Nato diese Region unter ihre Kontrolle bringt, ist unvorstellbar. Jedoch brauchte er diesbezüglich keinerlei Maßnahmen zu ergreifen, drückten doch beim Plebiszit vom 16. März fast 97 Prozent der Einwohner auf der Krim ihren Wunsch aus, wieder zu Rußland zu gehören, von dem sie 1954 durch eine Entscheidung des KPdSU-Chefs und Ukrainers Nikita Chruschtschow willkürlich getrennt worden waren. Bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent kann dieses Ergebnis keinen Zweifel am Volkswillen lassen.

Wer unter diesen Bedingungen von einem „Anschluß“ der Krim spricht oder Parallelen zu den Interventionen in Ungarn 1956 oder der Tschechoslowakei 1968 zieht, macht sich einfach nur lächerlich. Wer das Plebiszit als „rechtswidrig“ bezeichnet ebenso. Effektiv hat die „Revolution“ vom 21. Februar, bei der ein rechtmäßig gewählter Präsident abgesetzt wurde, was wiederum zur Auflösung des ukrainischen Verfassungsgerichts führte, die rechtsstaatliche Ordnung der Ukraine außer Kraft gesetzt. Aus ebendiesem Grund beraumten die politischen Verantwortlichen auf der Krim einen Volksentscheid über die Zukunft der Halbinsel an, da sie davon ausgingen, daß die Rechte der autonomen Region nicht länger garantiert seien.

Die Amerikaner scheinen vergessen zu haben, daß ihr eigener Staat einst aus der Sezession vom englischen Mutterland entstand und daß die Eingliederung Hawaiis in die Vereinigten Staaten 1959 sich auf keinerlei Vertragsgrundlage stützte.

Man kann nicht gleichzeitig eine Regierung anerkennen, die aus einem Bruch der verfassungsrechtlichen Ordnung entstanden ist, und sich auf ebendiese Verfassung berufen, um den Volksentscheid als „rechtswidrig“ zu bezeichnen. Wie lautet die alte lateinische Rechtsregel: Nemo auditur propriam turpitudinem allegans. („Niemand wird vor Gericht gehört, der seine eigene Schandtat vorträgt“, sprich: Aus verwerflichem Verhalten lassen sich weder Ansprüche noch Gegenrechte herleiten.)

Durch ihre Unterstützung der neuen ukrainischen Regierung, die in der unmittelbaren Folge eines Staatsstreichs entstand, haben die Amerikaner im übrigen unter Beweis gestellt, wie relativ ihre Sorge um „Rechtmäßigkeit“ ist – ebenso wie sie bereits durch ihre Angriffe auf Serbien, die Bombardierung Belgrads, die Unterstützung der Abspaltung und späteren Unabhängigkeit des Kosovo, die Kriegserklärungen gegen den Irak, Afghanistan und Libyen bewiesen hatten, wie wenig sie sich um das Völkerrecht oder den Grundsatz der „Unverletzlichkeit der Grenzen“ scheren. Auch scheinen sie vergessen zu haben, daß ihr eigener Staat einst aus der Sezession vom englischen Mutterland entstand und daß die Eingliederung Hawaiis in die Vereinigten Staaten 1959 sich auf keinerlei Vertragsgrundlage stützte.

Die europäischen und amerikanischen Regierenden, die sich das Recht anmaßen, als alleinige Vertreter der „internationalen Gemeinschaft“ aufzutreten, haben nicht den Volksentscheid angefochten, der vor einigen Jahren die Insel Mayotte von den Komoren abspaltete, um sie an Frankreich zurückzugeben. Sie lassen zu, daß die Einwohner Schottlands im September per Volksabstimmung über eine potentielle Unabhängigkeit entscheiden dürfen. Warum sollte man den Einwohnern der Krim nicht das gleiche Recht zugestehen? Die Auslassungen der europäischen und amerikanischen Regierenden über die mangelnde „Legalität und Legitimität“ des dortigen Plebiszits zeigen lediglich, daß sie nicht verstanden haben, worum es dabei ging, und weder das Selbstbestimmungsrecht der Völker noch die Volkssouveränität als Grundlage der Demokratie anerkennen.

5. Momentan ist die Zukunft so ungewiß wie beunruhigend. Die Ereignisse in der Ukraine sind noch nicht zu Ende, zumal weiterhin unklar bleibt, wofür genau die neue ukrainische Regierung steht. Sollte die Ukraine sich für eine enge Bindung an den Westen entscheiden, lautet die große Frage, wie der östliche Landesteil reagiert, der zugleich am stärksten prorussisch orientiert und am stärksten industrialisiert ist (der westliche Teil erwirtschaftet nur ein Drittel des BIP). Wie könnte Rußland hinnehmen, daß eine radikal antirussische Regierung über die Geschicke eines Landes entscheidet, in dem beinahe 20 Prozent der Bevölkerung russisch ist? Jeder Versuch, gewaltsam eine Lösung durchzusetzen, drohte zum Bürgerkrieg und letztlich zur Teilung eines Landes zu führen, in dem die großen politischen, sprachlichen und religiösen Trennlinien weitgehend mit den territorialen übereinstimmen. Erinnerungen an das Auseinanderfallen des ehemaligen Jugoslawien werden wach.

Das größte unmittelbare Risiko besteht in einer Destabilisierung der Lage in Kiew, die mit der Bildung von Milizen und isolierten Zwischenfällen einherginge, die zur Radikalisierung führen. Das kann weder im europäischen noch im russischen Interesse liegen. Auf der anderen Seite des Atlantiks hingegen besteht kein Mangel an Kriegsbefürwortern.

 

Alain de Benoist, Jahrgang 1943, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis.

Foto: Die Ukraine – umworben, bedrängt und bedroht: „Noch sind nicht gestorben der Ukraine Ruhm und Freiheit / noch wird uns lächeln das Schicksal“. Die ukrainische Nationalhymne verkündet trotzig Optimismus. Die Gegenwart gibt dafür keinen Anlaß.

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