© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/14 / 04. April 2014

Rausch und Ritual
Flüchtige Kunst: Eine Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum widmet sich dem Tanzen
Paul Leonhard

Eine Dresdner Tanzschule hat einem lesbischen Paar die Teilnahme an einem Anfängerkurs verweigert, und die Empörung der örtlichen Journalisten ist groß. Wenigstens druckt die lokale Zeitung einen Leserbrief, der fordert: „Gesellschaftstanz sollte den Paaren – Mann und Frau – vorbehalten bleiben.“ Schließlich seien bei Tanzturnieren auch keine gleichgeschlechtlichen Paare zugelassen und daß Frauen zusammen tanzten, sei eine Folge des letzten Krieges, als es zuwenig Männer gab. Eine kleine Episode, die aber zeigt, welche Bedeutung dem Tanz zukommt und welchen Einfluß er auf die Gesellschaft hat.

Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden hat dem Tanz als eigenständiger Kunstgattung und Bestandteil der Alltagskultur nun eine Sonderausstellung gewidmet. Unter dem Motto „Tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen“ wird eine Kunstform vorgestellt, die als eine flüchtige gilt. Denn wie stellt man den Tanz in einem Museum dar? Kuratorin Colleen M. Schmitz setzt bei den Spuren an, die der Tanz im Körpergedächtnis des Einzelnen und im kollektiven Gedächtnis ganzer Kulturräume hinterlassen hat. Als nächster Schwerpunkt ist die elementare Dimension von Rausch, Ritual und Ekstase, die im Tanz seit alters her im Zusammenhang mit religiösen Praktiken steht und heute bei Phänomenen wie Rave und Techno eine zentrale Rolle spielt.

Auf 1.200 Quadratmetern Fläche werden etwa 350 Exponate gezeigt, Arbeiten von Künstlern, Choreographen und Tänzern. Klassische Exponate wie Plastiken, Gemälde und Fotografien werden durch Filme und virtuelle Tanzkurse ergänzt, bei denen Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen Tanzunterricht geben. Zeitlich wird der Bogen dabei von der Antike zur Gegenwart gespannt. Camille Claudel hat in seiner Bronzeplastik „La Valse“ zwei Tanzende quasi eingefroren. Nach welchen Regeln in der Barockzeit getanzt wurde, zeigt ein kolorierter Kupferstich aus der Wüttembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Und auch die Sicht des Malers Emil Nolde auf eine „Tänzerin“ von 1913 ist ausgestellt. An die österreichische Ballerina Fanny Elßler (1810–1884) erinnern ihre Spitzenschuhe und ein Abguß ihres rechten Fußes.

Daß im Tanz zum Ausdruck kommt, was die Menschen seit jeher bewegt – Lebensfreude oder Lebensqual, hemmungslose Ekstase oder gezügelte Disziplin – zeigt überzeugend eine kurze, aber vielen bekannte Sequenz aus dem 1964 entstandenen Spielfilm „Alexis Sorbas“: Anthony Quinn zeigt Alan Bates, wie der Sirtaki getanzt wird. Auch Ausschnitte aus anderen Filmen werden gezeigt sowie Musikclips.

Innovative Tanzstile können auf explosive Weise überkommene Traditionen hinterfragen und die Beziehungen der Geschlechter neu interpretieren, findet Kuratorin Schmitz. Die nachwachsende Generation stellt die Traditionen ihrer Eltern in Frage, experimentiert mit neuen Tanzspielen und gesellschaftlichen Rollenbildern und verstößt bewußt gegen bis dahin geltende Konventionen. Sogar Ordnungsmuster einer Gesellschaft werden hinterfragt, wie die Verbote bestimmter Tanzstile durch totalitäre Regime wie den Nationalsozialismus und Sozialismus gezeigt haben. Im Tanz werden Phantasien, Spielregeln und Machtverhältnisse in Bewegungen übertragen, die auch in den übrigen Bereichen der Gesellschaft Spuren hinterlassen.

Aufgabe der Sonderschau ist es aber nicht nur, den Blick der Besucher auf den Tanz zu weiten und neue Sichten auf dieses Universalphänomen anzubieten, sondern vor allem „sich selbst in Bewegung zu bringen“, sagt Museumsdirektor Klaus Vogel. Deswegen bietet das Begleitprogramm jeden Monat eine Vielzahl von Veranstaltungen für Menschen, die gern tanzen.

Die Ausstellung „Tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen“ ist bis zum 20. Juli im Deutschen Hygiene-Museum, Lingnerplatz 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Katalog (Diaphanes Verlag) mit 288 Seiten kostet 29,95 Euro. Telefon: 03 51 / 48 46 - 400 www.dhmd.de

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