© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/14 / 28. März 2014

„Ein Höhepunkt in der Evolution“
Zwischen Galapagos und Sylt: Neue Aspekte der Walforschung und des Walschutzes
Uwe Wilckens

Erst als der Mensch aufhörte, die Wale auszurotten, begann er sich intensiv für ihre Lebensweise zu interessieren. Das war vor etwa 60 Jahren, aber auch heute weist, einem Forschungsüberblick der Journalistin Katharina Jakob zufolge (Natur, 3/2014), die Kenntnis über die achtzig Walarten große Lücken auf. Der von Jakob nicht erwähnte, sehr seltene, in den Südmeeren von Patagonien bis Tasmanien beheimatete Zwergglattwal (Neobalaena marginata) etwa ist bis heute als ein großer Unbekannter in biologischen Lexika registriert.

Den vielleicht spektakulärsten Erkenntniszuwachs verbuchten Zoologen, die sich eine der größten Walarten als Studienobjekt wählten, den zwanzig Meter langen Pottwal (Physeter macrocephalus). Der Kanadier Hal Whitehead (Dalhousie University Halifax) widmete seine Lebensarbeit diesen Giganten und vertritt als Summe seiner Forschungen heute die These von der kulturschöpferischen Leistung der Pottwale. Als deren spezifische Kultur definiert er ihre Fähigkeit, Verhaltensweisen innerhalb einer Population weiterzugeben und Informationen auszutauschen.

Pottwal-Verbände haben Kultur und sprechen Dialekt

Der Ethologe Whitehead entwickelte diese „Kulturtheorie“ anhand zweier Gruppen von Pottwalkühen und ihres Nachwuchses, die er vor den Galapagos-Inseln beobachtete. Jeder Verband zeigte eigene Bewegungsmuster, der eine blieb in Küstennähe, der andere schwamm weit in den Pazifik hinaus. Überdies stellte Whitehead signifikante Differenzen bei der internen Kommunikation fest, da jeder Verband eigentümliche Abfolgen von Klicklauten verwendete, eine Art „Dialekt“. Genetisch bedingt war das nicht, wie Whiteheads Nachweis identischer Erbanlagen der Tiere bestätigte. Daher mußten sich die Verhaltensformen kulturell, durch Weitergabe von Informationen innerhalb eines Clans, durch die von „Großmüttern, Müttern und Tanten“ besorgte Vermittlung der Regeln einer Sippe an den Nachwuchs herausgebildet haben. Funktioniert die Weitergabe nicht, fehle das „Know-how zum Überleben“.

Wie Whitehead am Beispiel der kaum noch 400 Tiere starken Population des Atlantischen Nordkapers (Eubalaena glacialis), einer kleineren, langsameren und durch Walfänger brutal dezimierten Glattwalart, demonstrierte: Die Tiere suchen ihre Nahrung ausschließlich im begrenzten Gebiet des Golfs von Maine vor der US-Ostküste, auch wenn das Futterangebot in manchen Jahren dort nicht ausreiche. Offensichtlich sei bei ihnen die Überlieferungskette gerissen, was zum Verlust „traditioneller Kenntnisse alternativer Jagdgründe“ geführt habe.

Auf ausgefeilte soziale Praktiken haben Pottwale keineswegs ein Patent. Denn die schottischen Biologen Luke Rendell und Jenny Allen untermauerten Whiteheads Untersuchungen mit ihren Analysen von Langzeitstudien über Buckelwale (Megaptera novae-angliae). Diese 30-Tonner waren in der Lage, hergebrachte Jagdstrategien aufzugeben, weil sie ein Artgenosse, ein „innovativer Geist“, eine erfolgreichere Methode gelehrt hatte. Zwischen 1980 und 2007 verlegten sich 40 Prozent der erfaßten Buckelwale auf die neue Technik, was die schottischen Forscher bewundernd kommentierten: Die Waltiere stellen, unabhängig von den Primaten einschließlich des Homo sapiens, unzweifelhaft einen „Höhepunkt in der Evolution nichtmenschlicher Kultur dar“.

Kaum eine Handvoll Nationen betreiben wie Norwegen und Japan weiterhin industriellen Walfang. Und aufgrund der einst von wenigen Umweltaktivisten angestoßenen Sympathiewerbung genießen die Tiere inzwischen in der westlichen Welt höchste Wertschätzung, gar Verehrung, wie Jakob meint. Davon zeugt die ungebrochene Nachfrage nach CDs mit den Gesängen der Buckelwale genauso wie die Bereitschaft, viel Geld auszugeben, um die Riesen beim touristischen „whale watching“ womöglich zu berühren und mit ihrer Hilfe in emotionale Tiefenschichten hineinzugleiten.

Windanlagenbau schädigt Schweinswale in der Nordsee

Die hohe Akzeptanz des Walschutzes und ihr Kultstatus, so warnt Jakob, sichere den Tieren aber nicht automatisch das Überleben. Neue Bedrohungen seien an die Stelle vergangener Walschlächtereien getreten. 300.000 Wale und Delphine verenden jährlich in Schleppnetzen und an Langleinen der auf allen Ozeanen operierenden Trawlerflotten. Kaum zu überschätzen sind zudem die Gefahren der Meeresverschmutzung durch Mikroplastik. Messungen dazu haben gerade erst am Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde begonnen, so daß valide Daten bislang fehlen (Leibniz-Journal, 4/2013).

Um mit diesen „neuen Bedrohungen“ konfrontiert zu werden, müssen Tierschützer indes nicht in exotische Fernen schweifen. Vor der deutschen Haustür könnten Tümmler oder Schweinswale (Phocoena phocoena) Opfer der Energie­wende werden. Jakob zitiert die Zoologin Ursula Siebert (Tierärztliche Hochschule Hannover), die 2008/09 Auswirkungen auf die Schweinswal­bestände ermittelte, die von den Bauarbeiten am ostfriesischen Off­shore-Windpark Alpha Ventus ausgingen. Viele der kaum zwei Meter langen Tiere verließen ihr Habitat. Artgenossen, die blieben, dürften durch den Lärm der Rammstöße dauerhafte Hörschädigungen und somit Beeinträchtigungen ihres Orientierungssinns erlitten haben.

Sieberts Studie nebst einer Protest­serie von Tierschutzverbänden zugunsten der 55.000 Schweinswale in der Nordsee hat das Bundesumweltministerium in Zugzwang gebracht. Als Bewertungsmaßstab für Emissionen des Windanlagenbaus setzte es Ende 2013 ein neues Schallschutzkonzept in Kraft, als dessen Kernstück es den herausgehobenen Schutz eines Seegebietes vor Sylt von Mai bis August anpreist. Dort, wo sich in dieser Zeit viele Mutter-Kalb-Paare aufhalten, garantiere ihnen das Konzept minimale Lärmbelästigung. Womit gewährleistet sei, daß sich der Bestand „über Generationen positiv entwickelt“ (Umwelt, 3/2014).

Skepsis ist allerdings angebracht, wenn das Ministerium zugleich einräumt, „kurzfristige Alternativen“ zur Rammtechnologie, die mehrere tausend Stöße erfordert, um nur einen Pfahl in den Meeresboden zu treiben, stünden leider nicht zur Verfügung. Die Belastung für die Schweinswale bleibe also hoch – „und sie wird noch zunehmen, wenn die Anzahl der Rammstellen steigt“.

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